Kapitel 8 Die Rückkehr des Weißen Wolfs: Tessas Abrechnung
Am nächsten Morgen brachte Mr. Walter Tessa persönlich zur Navoris High.
Der Schulleiter, Mr. Lambert, war nicht nur das Oberhaupt der Navoris High, sondern auch der Bildungsdirektor der Stadt. Er war ein vielbeschäftigter Mann, den man nicht einfach so zu Gesicht bekam. Doch Mr. Walters Ansehen in Navoris war beträchtlich, und so warteten die beiden im Büro des Direktors auf seine Ankunft.
Erst nach 11 Uhr betrat Mr. Lambert schließlich sein Büro. Als er die wartenden Besucher sah, ließ er sie sofort von seinem Assistenten hereinbitten. Nachdem er sich Tessas Situation angehört hatte, wirkte Mr. Lambert sichtlich besorgt.
Mit diesen Noten – nicht nur die Navoris High, selbst Berufsschulen würden sie nicht nehmen!
„Mr. Walter, ich habe Ihnen noch nie einen Wunsch abgeschlagen, aber diesmal kann ich wirklich nichts tun“, sagte Mr. Lambert zögernd. „Sie wissen, die Navoris High ist eine der besten Schulen, unsere Schüler streben nach Elite-Universitäten. Mit solchen Noten ist das einfach zu schwierig. Ich rate Ihnen, es an Berufsschulen oder anderen regulären Gymnasien zu versuchen, aber selbst dort wird es schwer.“
Tessa hatte nie gewollt, dass ihr Großvater für sie bittet. Sie stand wortlos auf und verließ das Büro.
Mr. Walter, der ihren Stolz kannte, folgte ihr rasch.
Doch bevor sie die Tür erreichten, erhielt Mr. Lambert einen Anruf von Nathaniel.
„Mr. Walter, bitte warten Sie!“, rief Mr. Lambert ihnen nach, als das Gespräch beendet war.
„Ich nehme Tessa an der Navoris High auf“, verkündete er, sein Tonfall hatte sich schlagartig geändert.
Selbst ein erfahrener Mann wie Walter war überrascht von diesem plötzlichen Sinneswandel. Was ist passiert?
„Mr. Lambert, habe ich Sie richtig verstanden?“, fragte Walter vorsichtig.
„Ganz richtig, Mr. Walter. Ich werde sofort alles für Tessas Aufnahme veranlassen“, versicherte Mr. Lambert. Er rief umgehend den pädagogischen Leiter an, damit dieser Tessas Einschulung regelte.
Tessa widersprach nicht, doch sie wusste, dass hinter diesem plötzlichen Umschwung mehr stecken musste.
Der pädagogische Leiter wies Tessa der leistungsschwächsten Klasse der Schule zu, gab ihr eine Uniform und stellte sie dem Klassenlehrer der zwölften Klasse, Klasse 8, vor.
„Mr. Hamilton, bitte kümmern Sie sich um Tessa“, sagte der Leiter höflich.
„Natürlich, Sir. Sie können sie mir ruhig anvertrauen“, erwiderte Mr. Hamilton mit einem routinierten Lächeln. An einer angesehenen Schule wie der Navoris High waren die Eltern der Schüler oft einflussreiche Persönlichkeiten – die Lehrer wussten, dass man sich mit ihnen besser nicht anlegte.
Die dritte Stunde war Mr. Hamiltons Unterricht. Er brachte Tessa in das Klassenzimmer der zwölften Klasse, Klasse 8.
„Alle zusammen, wir haben heute eine neue Mitschülerin“, verkündete Mr. Hamilton. „Bitte heißt sie herzlich willkommen.“
Tessa trat an die Tafel und schrieb mit selbstbewussten, fließenden Zügen ihren Namen: Tessa Sinclair.
„Hallo zusammen. Ich bin Tessa“, stellte sie sich schlicht vor.
Sofort begannen die ersten Tuscheleien.
„Ist das nicht die Tessa, die vor fünf Jahren rausgeworfen wurde?“
„Ja, ich glaube schon! Sie war mal in meiner Klasse.“
„Ist sie nicht damals mit einem Streuner durchgebrannt? Und war da nicht was mit einer Abtreibung?“
„Stimmt! Ich hab gehört—“
„So, jetzt ist aber Ruhe!“, unterbrach Mr. Hamilton das Getuschel. „Tessa, da hinten ist noch ein Platz frei. Setz dich bitte.“
Tessa ging in die letzte Reihe und ignorierte die abschätzigen Blicke ihrer Mitschüler.
Klasse 8 war eine allgemeine Klasse, in der vor allem Kinder einflussreicher Familien landeten, die es nicht in den Elitezweig der Schule geschafft hatten. Diese Schüler scheuten sich nicht davor, Ärger zu machen.
Nach der dritten Stunde kam Queenie Locke, eine von Winonas Gefolgsleuten, auf Tessa zu.
„Tessa! Du bist es wirklich! Ich kann nicht glauben, dass du den Mut hast, zurück nach Navoris zu kommen. An deiner Stelle…“, höhnte Queenie.
Queenie war früher Winonas rechte Hand gewesen und hatte oft dabei geholfen, Tessa zu schikanieren.
„Queenie, halt endlich deinen Mund“, fuhr Tessa sie scharf an. Sie hatte die Nacht in einem fremden Bett kaum geschlafen und nun hämmerte ihr der Kopf.
„Wer glaubst du eigentlich, wer du bist, dass du so mit mir redest?“, spottete Queenie unbeeindruckt. „Du bist doch nichts ohne deinen Wolf. Ich könnte dich mit einer Hand fertig machen!“ Sie packte Tessas Handgelenk, überzeugt davon, dass Tessa noch immer das schwache, wehrlose Mädchen von damals war.
Doch Tessas Augen verengten sich gefährlich, ein bedrohliches Funkeln blitzte darin auf.
Mit einer schnellen Bewegung drehte sie Queenies Griff um und verdrehte ihr den Arm nach hinten.
„Ahh—!“, schrie Queenie vor Schmerz.
Tessa hatte dabei nicht einmal die Kraft ihres Wolfs eingesetzt.
„Ich habe gesagt, ich suche keinen Ärger, aber ich fürchte mich auch nicht davor“, sagte Tessa kalt, ihre Stimme ruhig, aber bedrohlich. „Queenie, merk dir eins – ich bin nicht mehr die Tessa von vor fünf Jahren. Niemand trampelt mehr auf mir herum.“
Sie beugte sich näher zu ihr, ihr Griff wurde fester, bis Queenie sich winden musste. „Und vergiss nicht: Für alles, was du mir damals angetan hast, wirst du bezahlen. Stück für Stück. Ganz langsam.“
Tessa ließ los und stieß Queenie zurück. Queenie stolperte und fiel zu Boden, zu schockiert, um zu reagieren.
Queenie war wie erstarrt vor Unglauben. Wie kann sie so stark sein? Sie hat ihren Wolf doch noch gar nicht erweckt! Wie konnte sie mich so leicht überwältigen?
Der Blick, mit dem Tessa sie ansah – das war nicht menschlich. Es fühlte sich an wie der Blick eines Raubtiers, das seine Beute fixiert. Zum ersten Mal spürte Queenie Angst.
Ich darf nicht zulassen, dass Tessa an der Navoris bleibt. Wenn sie herausfindet, was Winona und ich ihr damals angetan haben, sind wir erledigt.
Während Queenie zitternd am Boden saß, schweiften ihre Gedanken unwillkürlich zurück zu jenem Vorfall…