Kapitel 6 Die Tochter von Lucian Farwell
Das Drunken Fairy war eines der besten Privatrestaurants in Horington. Jedes Gericht war vorbildlich und das Lokal akzeptierte nur die prominentesten Gäste. Reservierungen mussten außerdem mindestens einen Monat im Voraus erfolgen.
Madilyn hatte es gestern dank ihrer Kontakte geschafft, einen Tisch zu reservieren.
Die Inneneinrichtung des Restaurants war exquisit; jeder Tisch war durch einen Paravent getrennt, der Eingang jedes Raumes war aus Holz und das Gebäude hatte kein Dach. Bei Einbruch der Dunkelheit verbreitete der Kronleuchter oben eine sehr antike und typische Atmosphäre und man hatte das Gefühl, im Mondlicht zu speisen.
Die kleine Gruppe betrat das Gebäude und setzte sich an einen Ecktisch.
Es dauerte nicht lange, bis die Kellner mit dem Essen kamen.
Aus Sorge, das kleine Mädchen könnte sich unwohl fühlen, widmete Roxanne ihr ihre ganze Aufmerksamkeit, fütterte sie und wischte ihr bei jeder Gelegenheit den Mund ab.
Archie und Benny saßen neben ihnen. Als sie sahen, wie Estella das Essen verspeiste, schmolz ihr Herz dahin und sie versuchten ihr Bestes, um so viele Garnelen wie möglich für sie zu schälen.
Estella hörte nicht auf zu kauen, während sie sich auf den immer größer werdenden Essenshaufen vor ihr konzentrierte.
„Hast du gehört, was passiert ist? Die Prinzessin der Familie Farwell ist verschwunden! Die Familie hat die ganze Stadt nach ihr abgesucht, aber sie können sie immer noch nicht finden.“
Plötzlich war eine Stimme vom Nachbartisch zu hören.
Die nächste Person, die das Wort ergriff, klang vorsichtiger. „Sie kann doch nicht entführt worden sein, oder? Wer auch immer das getan hat, hat Nerven aus Stahl. Wer würde es jemals wagen, sie anzufassen? Sie ist Lucian Farwells süßes kleines Mädchen! Sie müssen des Lebens müde sein.“
Bei der Erwähnung von Lucians Namen verlangsamten sich Roxannes Bewegungen sichtlich und sie begann, abzuschalten.
Das Gespräch wurde trotzdem fortgesetzt. „Stimmt das? Die kleine Prinzessin ist vielleicht stumm und hat noch nie ein einziges Wort gesagt, aber sie hat trotzdem das beste Leben. Was für ein Glück für sie!“
Stumm?
Ein misstrauischer Ausdruck blitzte in Roxannes Augen auf, als sie aufhörte, sich zu bewegen.
Lucians süßes kleines Mädchen ist stumm?
Das Kind, das ich abgeholt habe, hat kein Wort gesprochen.
Ihrem Verhalten und ihrer Kleidung nach sieht sie tatsächlich wie jemand aus den Farwells aus.
Und dieser Mann am Telefon! Seine Stimme...
Bei diesem Gedanken unterdrückte Roxanne ihr Erstaunen, als sie sich dem Kind zu ihrer Linken zuwandte.
Das Mädchen schien ihren Blick bemerkt zu haben und blickte mit verwirrten Augen zu ihr auf.
Als sich ihre Blicke trafen, fühlte sich Roxanne, als wäre sie vom Blitz getroffen worden.
„Dieses Kind … Sie kann doch nicht Lucians Tochter sein, oder?“
Madilyn legte ihr Besteck hin und starrte das Kind ein paar Sekunden lang an. „Das wäre doch ein zu großer Zufall, oder?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Als Roxannes beste Freundin wusste sie alles, was diese in den letzten sechs Jahren durchgemacht hatte.
Dieses Mädchen sieht aus, als wäre sie etwa fünf oder sechs, also etwa so alt wie Archie und Benny.
Wäre sie wirklich Lucians Tochter gewesen, hätte er mit seiner ersten großen Liebe gleich nach der Scheidung von Roxanne ein Kind bekommen.
Der Typ konnte einfach nicht warten, oder?
Roxanne hat wirklich jemanden verdient, der besser ist als er.
Ohne zu wissen, was ihre Freundin dachte, erinnerte sich Roxanne an all die Ereignisse, die sich ereignet hatten, nachdem sie dieses Kind kennengelernt hatte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass das kleine Mädchen, das neben ihr saß, Lucians Tochter war.
„Ich würde sagen, dieses Mal haben wir den Jackpot geknackt“, bemerkte sie und verzog das Gesicht.
Als Madilyn sah, wie sicher die Frau aussah, wurde ihr das Herz schwer, als sie das verwirrt wirkende Kind ansah. „Was sollen wir dann tun? Lucian ist wahrscheinlich schon auf dem Weg!“, flüsterte sie.
Roxanne begann in Panik zu geraten.
Einen kurzen Moment später gab sie Madilyn ihr Telefon. „Nimm mein Telefon und tu so, als wäre es deins. Ich werde Archie und Benny hier rausholen. Wir warten auf dem Parkplatz auf dich.“
Madilyn nickte verständnisvoll.
Dennoch schmerzte es Roxannes Herz, das kleine Mädchen so ratlos zu sehen. „Ich überlasse die Kleine dir.“
Dann wandte sie sich an ihre eigenen beiden Kinder. „Lasst uns gehen.“
Die beiden Jungen folgten ihr gehorsam und ohne Fragen zu stellen.
Als Roxanne an dem kleinen Mädchen vorbeiging, spürte sie ein sanftes Zupfen an ihrem Ärmel.
Mit hin- und hergerissener Miene wandte sie sich dem Kind zu, nur um zu sehen, wie dieses ihren Ärmel fest umklammerte und äußerst nervös wirkte.
Der verstörte Gesichtsausdruck des Mädchens ging Roxanne wirklich zu Herzen.
Ganz gleich, was zwischen ihr und Lucian vorgefallen war, sie wusste, dass man diesem Kind niemals die Schuld geben konnte.
Schließlich beruhigte sie die Kleine: „Ich muss jetzt los. Diese Frau hier wird sich gut um dich kümmern, also warte hier, okay? Dein Papa kommt gleich.“
Damit löste sie sich aus dem Griff des Kindes und schritt aus dem Privatzimmer, ohne sich jemals umzudrehen.
Gleichzeitig wies Madilyn das Personal hastig an, die drei benutzten Teller- und Bestecksets wegzuräumen.
Kurz nachdem die Bedienung ihrer Anweisung nachgekommen war, wurde die Holztür aufgestoßen.
Eine Gruppe schwarz gekleideter Leibwächter stand in zwei Reihen und bildete einen Weg zwischen ihnen.
Als Madilyn das sah, richtete sie sich instinktiv auf, blickte zum Eingang und versuchte, so ruhig wie möglich zu wirken.
Dann beobachtete sie, wie ein frostig aussehender Lucian den Raum betrat.