Kapitel 12 Bleib an meiner Seite
Samuel schaute Natalie kurz mit einem bedeutungsvollen Blick an. Mit leicht geschürzten Lippen sagte er: „Frau Naumann, Ihre Wachsamkeit ist wirklich übertrieben. Aber wovor haben Sie Angst? Haben Sie Angst, ich könnte etwas von Ihnen wollen?“
Natalie fühlte sich unter seinem Blick äußerst unbehaglich.
Die Augen des Mannes waren auf ihr Gesicht gerichtet, als wolle er ihr in die Seele starren.
Endlich verstand sie, warum man ihm nachsagte, er sei ein äußerst dominanter und schwer zu ertragender Mann. Keiner der Menschen, die Samuel einmal ins Visier genommen hatte, konnte sich aus seinen Fängen befreien.
Es war nicht so, dass sie ihn vorher nicht ernst genommen hätte, aber sie wollte einfach nicht mit einer so gefährlichen Person in Verbindung gebracht werden.
In diesem Moment kam Gregor herein und meldete: „Sir, das Essen ist fertig.“
Samuels Lippen waren leicht nach oben geschwungen, als er sagte: „Frau Naumann, lassen Sie uns gemeinsam speisen. Lassen Sie sich die Arbeit meines Küchenchefs schmecken.“
Natalie lehnte nicht ab, sondern folgte Samuel einfach in den Speisesaal, um dort zu essen.
Der Esstisch war mit allerlei Köstlichkeiten beladen. Gleich nachdem sie Platz genommen hatte, begann sie zuzugreifen. Obwohl sie von den Kochkünsten des Küchenchefs angenehm überrascht war, gelang es ihr, sich während des Essens zu beherrschen. So überstand sie die Sitzung ohne Zwischenfälle.
Gerade als sie mit dem Essen fast fertig war, begann Samuels Telefon zu vibrieren.
„Bitte entschuldigen Sie mich“, sagte er.
„Geh nur.“
Als Samuel weg war, konnte Natalie sich endlich ein wenig entspannen.
Ich kann nicht glauben, dass ich es geschafft habe, das Essen zu beenden, ohne dass Samuel mir unnötig das Leben schwer gemacht hat. Könnte es sein, dass ich diejenige war, die zu paranoid war? Habe ich wirklich zu schlecht von ihm gedacht?
Sie wollte gerade ihr Essen beenden, als sie plötzlich etwas Kühles und Weiches an ihrer Wade spürte.
Was zur Hölle?
Natalie schaute nach unten und sah eine schneeweiße Schlange, die sich um ihre Wade schlängelte und langsam ihr Bein hinaufkroch. Ihre Augen waren klar und bernsteinfarben, und sie schnalzte ab und zu mit der Zunge.
Natalie war anders als Anni, die in der Stadt aufgewachsen war. Bevor sie neunzehn Jahre alt wurde, hatte Natalie auf dem Lande gelebt. Auf den Feldern und in den Flüssen gab es immer Schlangen, deshalb hatte sie keine Angst vor der Schlange. Mit ihren Freunden aus der Kindheit hatte sie sogar zum Spaß Schlangen gefangen.
Als sie jedoch in die Stadt kam, hatte sie kaum noch Gelegenheit, Schlangen zu sehen.
Sie legte ihre Gabel weg und löste den kleinen Kerl, der sich um ihr Bein gewickelt hatte, von sich, bevor sie ihn direkt vor ihr Gesicht hob. Dann streichelte sie sanft den Kopf der Schlange und sagte: „Hallo, kleiner Mann. Du siehst besonders aus. Bist du ein Albino?“
Sie hatte vor, die Schlange mit nach Hause zu nehmen, wenn sie keinen Besitzer hätte. Alexander würde sie gerne als Haustier behalten.
„Du hast keine Angst vor Moony?“ Eine kindliche Stimme war zu hören.
„M-Moony?“
Natalies Blick wanderte von Moony zu einem kleinen Jungen, der an der Tür des Speisesaals stand.
Der kleine Junge sah gut aus, und seine dunklen Augen waren fest auf sie gerichtet. Sein gutes Aussehen war sogar mit dem von Alexander und Matheo vergleichbar. Bei näherer Betrachtung stellte sie fest, dass der kleine Junge Alexander und Matheo ähnlich sah. Vielleicht war es gerade diese Ähnlichkeit, die sie leicht lächeln ließ.
Sie nahm Moony in die Hand und ging auf Franklin zu, bevor sie sich vor ihm hinhockte.
„Ist das deine Schlange? Die ist ja süß!“ Natalie lächelte, als sie in die dunklen Augen des kleinen Jungen blickte. „Heißt er Moony?“
Der kleine Junge schürzte seine Lippen und schnaubte. „Du bist unattraktiv, aber du bist ziemlich mutig. Zumindest bist du besser als die Frauen, die schrien, als sie Moony sahen.“
„Hier. Ich gebe ihn dir zurück.“ Natalie legte Moony auf Franklins kleine Handflächen.
Franklin schnaubte erneut und wandte dabei nicht ein einziges Mal seinen Blick von ihrem Gesicht ab. „Ich habe dich vorhin unattraktiv genannt. Warum bist du nicht sauer auf mich?“
Da Natalie eine hyperrealistische Maske auf dem Gesicht hatte, die sie hässlich erscheinen ließ, störte sie sich nicht im Geringsten an den harschen Worten des kleinen Jungen.
„Nun, es ist eine Tatsache, dass ich unattraktiv bin. Deshalb gibt es für mich keinen Grund, darüber sauer zu sein.“ Sie strich Franklin über den Kopf, der wegen seiner kurzen Haare borstig war, während sie sprach. „Außerdem bin ich schon hässlich. Würde es mich nicht noch hässlicher machen, wenn ich mich noch darüber aufrege?“
Franklin war bereits fünf Jahre alt. Dennoch hatte außer seinem Großvater noch nie jemand seinen Kopf berührt.
Sein Vater hatte ihn nie berührt, während andere es nicht einmal wagen würden, daran zu denken. Selbst die Frau, die ihn zur Welt gebracht hatte, würde sich vor ein paar Worten von ihm fürchten. Deshalb würde sie sich ihm niemals nähern.
In der Brust des Jungen breitete sich eine unbeschreibliche Wärme aus, als Natalie seinen Kopf streichelte.
Es war ein Gefühl, das er noch nie zuvor erlebt hatte.
„Du…“ Er ballte seine kleinen Fäuste.
„Hmm? Was ist los?“ Natalie hielt in ihrem Tun inne, bevor sie den Kopf hob und den Jungen ansah, der mit etwas zu kämpfen zu haben schien.
„Frau, du hast meinen Kopf angefasst! Du wirst die Verantwortung dafür übernehmen müssen.“ Franklin starrte ihr direkt in die Augen, während er sprach. „Sei von nun an meine Frau. Ich schwöre, dass ich mich für den Rest meines Lebens nach besten Kräften um dich kümmern werde. Niemand wird es wagen, dich zu schikanieren!“
„Pfft!“
Natalie konnte sich ein Schnauben nicht verkneifen.
Dieser kleine Kerl ist nur ungefähr so alt wie Matheo und Alexander, aber er hat mir einfach so seine Gefühle gestanden? Das Komische war, dass der kleine Junge so niedlich war, aber er sagte etwas so Herrschsüchtiges, als wäre er der Präsident einer Firma. Der Kontrast war so verblüffend, dass sie sich ein Lachen nicht verkneifen konnte.
„Warum lachst du?“ Franklin blies seine Wangen auf und starrte sie ernst an. „Es gibt nicht viele Frauen, die meinen Ansprüchen gerecht werden können. Du bist die erste. Da sowohl Moony als auch ich dich für akzeptabel halten, solltest du von heute an an meiner Seite bleiben.“
Natalie konnte sich vorstellen, wie wütend der Vater dieses Kindes sein würde, wenn er das hören würde.
Während sie noch mitten in ihren Gedanken war, kam eine große, hagere Gestalt aus dem Wohnzimmer.
Die Augen des Mannes waren streng und eisig, als er rief: „Franklin Bauer.“