Kapitel 6 Der echte und der falsche Karl
Zwischen Evans Brauen zeichnete sich Besorgnis ab. „Ich verstehe. Ich werde bald da sein!“
Nachdem er das Telefonat beendet hatte, wirkte Evans gesamtes Auftreten kalt und ließ die Temperatur im Raum schlagartig sinken.
Nina zitterte, versteinert von seinem derzeitigen Aussehen.
„Planänderung. Dich bei einem Autounfall sterben zu lassen, ist eine zu milde Strafe. Du solltest zuerst für deine Sünden büßen.“
Für meine Sünden büßen?
Was... Was hat er denn vor?
Nina war zu sehr in ihre Gedanken vertieft, um zu bemerken, dass Evan bereits die Tür geöffnet und den Leibwächtern draußen einen Befehl gegeben hatte.
„Behalte ein Auge auf diese Frau. Unter keinen Umständen darf sie diesen Raum verlassen. Und schon gar nicht ohne meine Erlaubnis.“
Erst jetzt kam Nina wieder zur Besinnung.
Er hält mich hier gefangen! Aber meine drei Kinder warten immer noch in der Bäckerei auf mich!
„Hey!“
Bevor Evan herauskam, sprang sie schnell vom Bett und lief ihm hinterher.
Doch sie war immer noch einen Schritt zu spät.
Die Tür wurde ihr mit einem lauten Knall vor der Nase zugeschlagen.
...
Ein silberner Rolls-Royce fuhr langsam auf die Hügel-Villa zu, wo sich bereits zwei Reihen von Dienstmädchen respektvoll auf beiden Seiten der Veranda aufgereiht hatten.
„Herr Staar!“ Sie begrüßten ihn unisono.
Nachdem Evan die Autotür zugeknallt hatte, trug er zwei verpackte Kisten mit Käsekuchen und eilte mit besorgter Miene die Treppe hinauf.
„Wie geht's Karl?“ Seine Stimme klang kühl, als er seinen Butler Brian fragte, der neben ihm herlief.
„Er hat vorhin wieder Blut gespuckt...“ sagte Brian, wobei seine Stimme leicht zitterte.
„Hat er seine Medizin bekommen?“
Brian stieß einen Seufzer aus und antwortete: „Karl hat sie wieder weggeschüttet.“
Evan hielt einen Moment lang inne und runzelte die Stirn. „Na gut.“
Als sie oben waren, stellte Evan fest, dass Karls Zimmer von innen verschlossen war. Er versuchte vorsichtig, den Türknauf zu drehen, aber er ließ sich nicht bewegen.
„Ich will es nicht trinken!“ Der Protest eines Kindes kam aus dem Zimmer.
„Mach die Tür auf, Karl. Ich bin's, Papa!“ Evan drängte ihn in einem rauen Ton, der Befehl in seiner Stimme passte zu seiner unnachgiebigen Haltung.
In diesem Augenblick verstummten alle Geräusche im Zimmer.
Kurz darauf wurde die Tür mit einem Klacken entriegelt.
Ein hübscher Junge, der wie eine zarte Puppe aussah, stand auf der anderen Seite der Tür. Sein Teint war blass, und er starrte Evan mit rotgeränderten Augen und einem verärgerten Schmollmund an.
„Ich will die Medizin nicht trinken, Papa.“
„Sei ein braver Junge, Karl. Du bist krank, also musst du deine Medizin nehmen, damit es dir besser geht.“ Evan beugte sich hinunter, um Karls Haarschopf zu streicheln.
Evan war dafür bekannt, dass er kalt und rücksichtslos war. Daher kam es nur selten vor, dass er Geduld und Zuneigung zeigte, wenn es um seinen Sohn ging.
„Ich sagte, ich will es nicht trinken! Und ich bin nicht krank!“
Plötzlich schien Karl aus irgendeinem Grund verzweifelt zu sein. Dann stieß er Evans Hand mit einem rebellischen Gesichtsausdruck weg, der an ein wütendes Löwenjunges erinnerte.
„Was genau willst du denn, Karl?“ Evan war außer sich vor Wut.
Karls große, runde Augen röteten sich wieder, und seine Lippen begannen zu zittern. „Ich will meine Mama.“
Mama?
Evan dachte sofort an die Frau, die vor ihm versuchte, sich dumm zu stellen.
Vor fünf Jahren hatte diese Frau ihren Tod vorgetäuscht und ihren kleinen Sohn kaltherzig an die Familie Staar weggeschickt.
Aber in Wirklichkeit hat sie die letzten fünf Jahre glücklich gelebt!
Karl hingegen ist seit seiner Kindheit krank. Und die ganze Zeit hat er unter der fehlenden Liebe seiner Mutter gelitten!
Verflucht seist du, Nina! Du verdienst es überhaupt nicht, eine Mutter zu sein!
Evan holte tief Luft, artikulierte jedes Wort und sagte: „Karl, ich sage es noch einmal, also hör gut zu. Deine Mutter ist tot. Du hast nur mich - deinen Papa!“
„Ich will es nicht hören! Du lügst. Du lügst!“ Karl hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, sein Gesicht verzerrte sich vor Wut.
Mit einem lauten Knall knallte Karl die Tür zu und schloss sie schnell wieder ab.
„Herr Staar, Karl ist doch noch ein Kind...“ sagte der Butler besorgt.
„Konfisziere sein Lego und sein iPad später! Es ist an der Zeit, dass er über seine Taten nachdenkt!“
Mit düsterer Miene wandte sich Evan zum Gehen, hielt aber nach zwei Schritten inne. „Und sag der Küche, sie soll die Heilkräuter weiter kochen!“
...
Am Eingang von Die Passion.
Leos obsidianfarbene Augen musterten die hell erleuchtete Bar.
Er warf einen Blick auf den Peilsender an seinem Handgelenk. Ja. Mama ist hier.
Die drei hatten sehr lange im Süßwarenladen auf ihre Mutter gewartet, aber sie war nie erschienen.
Aus Sorge, dass ihrer Mutter etwas zugestoßen war, sagte Leo zu Nayla, sie solle zuerst Maya nach Hause bringen, während er sich auf die Suche nach ihrer Mutter machte.
Es war das erste Mal, dass Leo einen solchen Ort aufsuchte. Sobald er die Bar betrat, sah er Männer und Frauen, die sich auf der Tanzfläche wild im Takt wiegten; es war ein Durcheinander von durcheinander geworfenen Körpern.
Die hämmernde Musik war ohrenbetäubend, und die chaotische Atmosphäre bereitete ihm Kopfschmerzen.
Dennoch hielt er sich nicht lange auf, sondern lief direkt auf die Privaträume im hinteren Teil der Bar zu.
Das GPS zeigt, dass Mama ganz hinten ist.
Leo war jedoch verblüfft, als er auf Räume stieß, die alle gleich aussahen. Es gibt hier so viele Zimmer. Wie soll man da Mama finden?
Gerade als er mit einem Stirnrunzeln in tiefe Gedanken versank, ertönte eine Stimme hinter ihm.
„Bist du das, Karl? Was machst du denn hier?“
Als Leo diese Stimme hörte, drehte er sich um. Dann hob er den Kopf und sah den hoch aufragenden Mann in Schwarz an, wobei ihm Zweifel in die Augen traten.