Kapitel 2 Familie
Sierra hob den Kopf und beobachtete mit einem Anflug von Kälte in ihren Augen, wie Bradley sich zurückzog.
Gut… Es war gut, dass sie schon lange nichts mehr von ihnen erwartete. Sonst wäre sie vielleicht wieder verletzt gewesen.
Sie folgte Bradley ins Haus. Wie er gesagt hatte, waren alle außer Franklin Xander da.
Ihre Brüder Evan und Sean saßen auf der Couch und unterhielten sich mit Denise.
„Sean, dieses Outfit sieht so gut aus. Gib es mir.“
„Klar, kein Problem. Ich rufe die Marke an und lasse mir die gesamte Saisonkollektion schicken“, sagte Sean Xander großzügig.
„Evan, ich kann meine Abschlussarbeit nicht fertigstellen. Kannst du später mal vorbeischauen? Bitte, Evan?“
„Natürlich“, antwortete Evan Xander nachsichtig.
Sierras Mutter Eleanor saß neben ihnen und beobachtete die drei Geschwister mit sanfter Zuneigung.
Was für eine warme und liebevolle Szene.
Dieser Ort war nie Sierras Zuhause.
Genau wie vor sechs Jahren, als sie zurückgebracht wurde, war sie immer noch eine Außenseiterin, immer fehl am Platz.
Damals hatte Denise rote Augen geweint und die ganze Familie hatte sich um sie geschart und ihr Trost gespendet.
Niemand hatte Sierra auch nur zur Kenntnis genommen, sodass sie über eine Stunde lang allein dastand.
Dieses Mal musste sie wenigstens nicht so lange warten.
Eleanor bemerkte sie bald und stand aufgeregt auf.
„Sierra, du bist zurück!“ Sie griff sichtlich gerührt nach Sierras Hand. „Komm, lass mich dich genauer ansehen. Du hast abgenommen! Aber deine Haut ist jetzt viel heller.“
Sierra zog sanft ihre Hand weg und sagte höflich: „Madam Eleanor, danke für Ihre Sorge.“
„Genug!“ Bradley hatte seinen Frust den ganzen Heimweg über unterdrückt, aber jetzt rastete er aus.
„Die ganze Familie hat auf dich gewartet und dich zu Hause willkommen geheißen, und wofür nimmst du diese Haltung an? Wem gegenüber versuchst du, dich so kalt und distanziert zu verhalten?“
Eleanors Gesicht verfinsterte sich. Sie sah verletzt aus. „Sierra, gibst du uns die Schuld?“
Als Eleanor aufgebracht wirkte, eilte die ganze Familie herbei, um sie zu trösten. Denises Augen wurden rot vor Sorge.
„Mama, sei nicht traurig.“
„Sierra, es ist alles meine Schuld! Gib mir die Schuld, wenn du willst, aber sei nicht so. Mama hat dich in den letzten drei Jahren so sehr vermisst. Sie hat die ganze Zeit an dich gedacht. Wenn du dich so verhältst, wird sie untröstlich sein.“
Sierra beobachtete kalt die Szene vor ihr.
Wie absolut lächerlich.
Sie war diejenige, die drei Jahre lang eingesperrt war.
Doch jetzt verhielten sie sich, als wäre sie eine undankbare Kriminelle.
„Jetzt reicht es aber. Kaum bist du hier, verdirbst du schon die Stimmung. Kannst du aufhören?“, blaffte Sean ungeduldig. „Entschuldige dich bei Mama.“
Sierra lächelte leicht und sah Sean an. „Hat Herr Xander nicht bereits öffentlich erklärt, dass er die Verbindung zu mir abgebrochen hat, als ich verurteilt wurde? Warum sollte ich mich entschuldigen?“
Was war also falsch daran, sie Madam Eleanor zu nennen?
Sobald Sierra ihre Rede beendet hatte, herrschte im ganzen Raum Totenstille.
Eleanor sah Sierra an, als wolle sie etwas sagen, wusste aber nicht, wie sie anfangen sollte.
Am Ende war es Bradley, der sprach.
„Die Aktien des Unternehmens fielen damals steil. Papa hatte keine andere Wahl, als eine vorübergehende Entscheidung zu treffen. Wir werden alles später wiederherstellen, keine Sorge.“
Er fuhr fort: „Okay, du musst müde sein. Geh nach oben, dusche und komm dann zum Abendessen runter.“
Im Vergleich zu vorher war Bradleys Ton deutlich sanfter geworden. Hätte Sierra es nicht erwähnt, hätte er es vielleicht ganz vergessen.
Als damals bekannt wurde, dass ihre Familie in einen Fahrerfluchtunfall ohne Fahrerlaubnis verwickelt war, stürzten die Aktien des Unternehmens ab. Franklin hatte öffentlich erklärt, die Beziehungen zu Sierra abzubrechen – ein Schritt, den Bradley selbst unternommen hatte.
Der Plan bestand darin, sie wieder einzustellen, sobald sich die Lage beruhigt hatte.
Aber am Ende haben sie es einfach vergessen.
Bradley warf Sierra einen ungewohnten Blick von Schuld zu.
Doch was ihn noch mehr beunruhigte, war ihr Gesichtsausdruck.
Die vertraute Bewunderung, die Sehnsucht in ihren Augen – beides war verschwunden.
Jetzt sah sie sie mit leerem Blick an.
Die Leere in ihrem Blick löste bei ihm ein seltsames Unbehagen aus.
Sierra ignorierte sie und folgte einem Diener nach oben in ihr Zimmer.
Sie konnte es kaum erwarten, Staub und Schmutz abzuwaschen.
Doch als sie die für sie vorbereiteten Kleider sah, verstummte sie.
Sie entsprachen genau Denises Stil. Rüschen, Spitzen, süß – Dinge, die ihr nie gefallen hatten.
Seit sie in dieses Haus gekommen war, sah ihre Garderobe immer so aus.
Zuerst dachte sie törichterweise, dass ihre Mutter damit ihre Zuneigung zeigen wolle.
Obwohl sie ihr nicht gefielen, trug sie sie trotzdem.
Später fand sie die Wahrheit heraus.
Dies waren nur Denises Reste.
Jede Saison wurden für Denise zuerst die neusten Kollektionen eingekauft.
Was Denise nicht wollte, wurde an Sierra weitergegeben.
Dieses Mal würde sie keine Secondhand-Kleidung mehr tragen.
Nach dem Duschen zog Sierra wieder die Kleidung an, die sie vorher getragen hatte.
Als sie nach unten ging, saß die Familie Xander bereits am Esstisch.
Sie hatten dies als Willkommensessen für sie bezeichnet.
Doch keiner von ihnen hatte gewartet.
Stattdessen waren alle damit beschäftigt, Denise das Essen auf den Teller zu geben.
Erst als Sierra sich hinsetzte, wurde Eleanor endlich klar, dass sie sie völlig vergessen hatten.
Ausnahmsweise flackerte Schuld in Eleanors Augen. Als sie sah, dass Sierra immer noch ihre alten Kleider trug, fragte sie schnell: „Warum hast du dich nicht umgezogen? Stimmte die Größe nicht?“
„Ja“, antwortete Sierra einfach und machte sich nicht die Mühe, es zu erklären.
„Oh, das ist meine Schuld! Ich dachte, du und Denny, ihr hättet ungefähr die gleiche Größe, also dachte ich, sie würden passen.“
Ungefähr gleich groß?
Sierra war einen halben Kopf größer als Denise.
War Eleanor nie aufgefallen, dass ihr die Kleidung immer zu kurz war?
Sierra konnte sich ein leichtes Spottgeräusch nicht verkneifen. „Madam Eleanor, es ist nicht Ihre Schuld. Ich habe im Gefängnis gut gegessen und geschlafen. Ich muss gewachsen sein. Verständlich, dass Sie das nicht wissen.“
Im Speisesaal herrschte augenblicklich Stille.
Klirren.
Denise rutschte die Gabel aus der Hand und fiel klappernd auf den Boden. Ihr Gesicht wurde blass, ihre Augen waren voller Angst.
Eleanor tröstete sie sofort. „Es ist okay, Denny.“
Bradleys Stimme wurde kalt. „Sprich nicht von diesem Ort. Denny bekommt Angst.“
Allein die Erwähnung des Gefängnisses machte Denise nervös.
Sie machten sich alle Sorgen um sie.
Aber hatten sie jemals darüber nachgedacht, wie Sierra diese drei Jahre überlebt hat?
Sierra verzog ihre Lippen zu einem spöttischen Lächeln.
So voreingenommen kann ein Herz sein.
Sie sah die Familie Xander an, die ganz darauf konzentriert war, Denise zu trösten.
Eine Welle der Ironie blitzte in ihren Augen auf.
Ohne etwas mehr zu sagen, nahm sie ihre Gabel und begann zu essen.
Am Essen war nichts auszusetzen.
Es war lange her, seit sie eine richtige Mahlzeit zu sich genommen hatte.
Als die Familie Xander aus ihrer Benommenheit erwachte, bot sich ihnen dieser Anblick: Sierra aß mit voller Geschwindigkeit, völlig ungestört, als hätte ihre Vernachlässigung sie überhaupt nicht beeinträchtigt.
Diese Version von Sierra kam ihnen ungewohnt vor.
In der Vergangenheit war sie sich ihrer Stimmungen immer überaus bewusst gewesen.
Wenn sie auch nur die Stirn runzelten, geriet sie in Panik und versuchte ständig, ihnen zu gefallen.
Sie würde sich nicht entspannen, bis sie sie lächeln sah.
Diese Veränderung in ihr war beunruhigend.
Bradley wollte gerade etwas sagen, als sein Blick auf ihr Handgelenk fiel.
Eine lange, hässliche Narbe verlief über ihre Haut.
Ohne nachzudenken, platzte es aus ihm heraus: „Was ist mit Ihrer Hand passiert?“