Kapitel 6
Nathans Augen füllten sich mit Verwirrung. Die Isabella, die er einst kannte, war völlig abhängig von ihm und brauchte ihn für jede Mahlzeit. Aber jetzt schien sie in der Lage zu sein, sich selbst zu versorgen.
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Obwohl Isabella im Krankenzimmer fast Hunger verspürte, verging ihr der Appetit, als sie das Essen betrachtete, das der Liefermann gebracht hatte. Ihre Hand ruhte sanft auf ihrem Magen, ein Geheimnis, das nur sie kannte. Ihr Verdauungssystem war immer robust gewesen und neigte nie zu Übelkeit bei so etwas Banalem wie einer Erkältung.
Erinnerungen von vor drei Monaten wurden wach - Nathan hatte sie angefleht, eine Niere für Victoria zu spenden. Noch in derselben Nacht hatte sie törichterweise um seine Aufmerksamkeit gebeten. Jetzt war es sehr wahrscheinlich, dass sich ein neues Leben in ihrem Schoß bildete.
Ein schwaches, bitteres Lächeln huschte über ihre blassen Lippen. Dieses Kind hätte nicht zu einem schlechteren Zeitpunkt kommen können.
Als Nathan eintrat, starrte Isabella mit aschfahlem Gesicht aus dem Fenster, doch ihre Stimme war unerschütterlich und entschlossen.
„Nathan, kannst du mir ein paar Mifepriston-Pillen besorgen?“
Nathan erstarrte. Das schüchterne Mädchen, das früher in seiner Nähe vorsichtig gewesen war, gab ihm jetzt Befehle?
Er verbarg seine Reaktion. „Wofür?“
„Meine Periode hat eingesetzt. Ich habe Krämpfe“, antwortete Isabella und drehte sich zu ihm um. „Bitte.“
Sein Blick fiel auf ihre Hand, die sie gegen ihren Bauch drückte. Fast unwillkürlich nickte er.
„In Ordnung.“
Als er ihn gehen sah, wurden Isabellas einst so klare Augen immer schattiger.
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Nathan verließ den Raum und rief seinen Assistenten.
„Kaufe ein paar Mifepriston-Pillen und bringe sie ins Krankenhaus.“
Kurz darauf erhielt Isabella eine ganze Flasche mit Pillen, die dem Assistenten gehörte.
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In dieser Nacht war es auf den Fluren des Krankenhauses gespenstisch still. In Victorias Zimmer tröstete Nathan sie liebevoll.
„Victoria, dein Leben ist hart erkämpft. Du musst es wertschätzen. Kein rücksichtsloses Verhalten mehr.“
Victoria, die blass und schwach war, hielt seine Hand ganz fest. Trotz ihres geschwächten Zustands strahlte sie Liebe aus.
„Nathan, du weißt, wie sehr ich dich liebe.... Ohne dich ist das Leben sinnlos. Deshalb darfst du mich nicht verlassen.“
„In Ordnung“, versicherte er ihr, “ich werde immer an deiner Seite sein. Du musst dich nur schnell erholen.“
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In einem anderen Zimmer hockte Isabella auf ihrem Bett und starrte an die weiße Decke. Sie spürte eine Leere in ihrem Körper, einen Schmerz, der ihre Seele widerspiegelte. Tränen, warm und leise, flossen aus ihren Augenwinkeln.
Als sich ihr Bettlaken blutrot färbte, schloss sie die Augen und eine einzelne Träne rann über ihre Wange. Es war keine Traurigkeit, sondern Erleichterung. Endlich war sie frei. Sie und Nathan hatten keine Verbindung mehr.
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Am nächsten Tag kam Nathans Assistent mit Isabelles Gepäck, ihrem Reisepass und einer Bankkarte.
„Madam“, stammelte der Assistent, “der Präsident hat alles arrangiert. Ihr Flug geht um 7 Uhr.“
Isabella, schwach und müde, konnte kaum ein Wort herausbringen.
„Er kommt nicht, um mich zu verabschieden?“
„Ihre Schwester hatte letzte Nacht einen Anfall“, erklärte die Assistentin unbeholfen. „Der Präsident konnte sie nicht allein lassen.“
Isabellas Reaktion war frei von Enttäuschung, so als hätte sie es die ganze Zeit erwartet.
„Ich verstehe.“
Die Assistentin reichte ihr die Karte.
„Das ist dein Lebensunterhalt. Der Präsident wird in drei Monaten hier sein, um dich zurückzuholen. Er hat auch jemanden organisiert, der sich im Ausland um dich kümmert...“
Aber Isabella lehnte die Karte ab. Sie kämpfte sich auf die Beine und zog absichtlich die alten Kleider an, die sie vor vier Jahren in den Hill-Haushalt gebracht hatte. Sie drückte der Assistentin ihre neuen Kleider und ihr Gepäck in die Hand und verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzusehen, wobei sie eine aufrechte Haltung einnahm.
„Madam, was machen Sie da?“, fragte die Assistentin verblüfft.
Isabellas Stimme war leise, aber fest.
„Ich brauche nichts mehr. Werfen Sie es einfach weg.“
Die Assistentin war fassungslos.
„Madam, nehmen Sie wenigstens die Karte“, beharrte sie.
Zögernd nahm Isabella sie an sich.
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Am internationalen Flughafen begleitete die Assistentin sie zur Sicherheitskontrolle.
„Madam, ich kann Sie nur so weit begleiten. Passen Sie gut auf sich auf.“
Isabella ignorierte sie und ging schnell weiter, als ob sie alles hinter sich lassen wollte. Doch bevor sie in der Kontrollstelle verschwand, tat sie etwas Schockierendes: Sie warf die Bankkarte in den Papierkorb.
Die Assistentin erstarrte. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie alle Verbindungen abgebrochen hatte. Sie hatte den Tiefpunkt erreicht, erkannte ihren Platz in Nathans Herz und war entschlossen, seine Welt für immer zu verlassen.
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Zurück auf dem Anwesen der Familie Hill kehrte Nathan erschöpft nach Hause zurück, nachdem er den größten Teil des Tages damit verbracht hatte, Victoria zu trösten. Die Assistentin wartete auf ihn, das Gepäck im Schlepptau. Bei diesem Anblick verfinsterte sich Nathans Miene sofort.
„Was ist denn hier los? Habe ich ihr nicht gesagt, dass sie sofort gehen soll? Warum ist ihr Gepäck noch hier?“, fragte er.
„Sie ist schon weg“, versicherte ihm der Assistent.
Nathan sah die Assistentin misstrauisch an.
„Was ist es dann?“
„Sie wollte diese Sachen nicht“, erklärte die Assistentin nervös.
Für einen kurzen Moment spürte Nathan einen Stich in seiner Brust, ein unerklärliches Unbehagen. Aber er verdrängte es schnell.
„Sie hat die alten Sachen nicht mitgenommen, weil sie sich mit dem Geld, das ich ihr gegeben habe, neue kaufen will“, spottete er. „Vier Jahre Luxus und ich habe sie zu einer extravaganten Person gemacht.“
Aber die Assistentin machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
„Herr Präsident, sie hat die Bankkarte in den Müll geworfen, nachdem sie den Checkpoint passiert hatte.“
Nathans Miene erstarrte, sein Gesicht glich einer zerbrochenen Skulptur.
Nach einem langen Schweigen lachte er bitter auf.
„Bekommt sie einen Wutanfall? Ist sie wütend, weil ich sie vernachlässigt habe? Wenn sie sich beruhigt hat, bringe ich sie zurück.“
„Wer hat ihr den Mut gegeben, mich herauszufordern?“
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Die Haushälterin, eine langjährige Angestellte der Familie, mischte sich mit einem neckischen Kommentar ein.
„Herr, die Dame hat gerade eine Operation hinter sich. Wenn Sie sie jetzt ins Ausland schicken, könnte sie Sie verachten. Machst du dir keine Sorgen?“
Die Haushälterin mochte Isabella, fand sie sanftmütig und rücksichtsvoll und machte dem Personal nie Schwierigkeiten.
Nathans Gesichtsausdruck blieb unleserlich. Die Worte der Haushälterin hallten in seinem Kopf nach.