Kapitel 2 Warum sind sie nicht gekommen?
Lauren wusste, dass sie nicht entkommen konnte.
Lucas war einmal die Person gewesen, der sie am meisten vertraute und auf die sie sich am meisten verlassen konnte. Jetzt war er derjenige, den sie verabscheute und dem sie am wenigsten begegnen wollte.
Anstatt sich Lucas zu stellen, entschied sie sich für die nächstbeste Option - sie ging mit Elliot.
Immerhin hatte Elliot sie von Anfang bis Ende immer verachtet.
An dem Tag, an dem sie zum ersten Mal in die Bennett-Residenz zurückkehrte, hatte Elliot sie gewarnt: „Auch wenn wir das gleiche Blut teilen, habe ich in meinem Herzen nur eine Schwester, und das ist Willow. Du solltest dich besser benehmen. Wenn ich dich jemals dabei erwische, wie du Willow schikanierst, lasse ich dich nicht davonkommen.“
Er hat ihr nie Hoffnungen gemacht, so dass sie nie allzu sehr enttäuscht wurde. Vor Elliot konnten die seelischen Wunden, die sie erlitt, zumindest minimiert werden.
Das war besser, als von dem, der ihr am nächsten stand, völlig zerstört zu werden.
Das Gefängnis hatte sie eine Lektion gelehrt.
Wenn man keine Macht, keinen Status und keine Unterstützung hat, hängt das Überleben davon ab, den Schaden mit allen Mitteln zu minimieren.
Als ihre Zellengenossen mit ihr spielten und sie vor die Wahl zwischen einer Entstellung und einer Ohrfeige stellten, wählte sie die Ohrfeige.
Als sie vor die Wahl gestellt wurde, sich schlagen zu lassen oder zu knien, entschied sie sich für das Knien.
Als man sie vor die Wahl stellte, entweder Toilettenwasser zu trinken oder wie ein Hund zu bellen, entschied sie sich für das Bellen.
Sie hatte sich zuvor verzweifelt gewehrt, aber je mehr sie sich wehrte, desto schlimmer wurden die Schläge. Um zu überleben, warf sie ihre Würde weg und ließ sich benutzen.
Selbst als sie zwischen die bösartigsten Kriminellen geworfen wurde, hatte sie es geschafft zu überleben, indem sie wusste, wann sie sich vor Schaden drücken musste.
Lauren ging auf Elliots schwarzen Bentley zu.
Als sie an Lucas vorbeiging, blieb ihr Gesichtsausdruck gleichgültig. Sie warf ihm nicht einmal einen Blick zu.
Das lose T-Shirt streifte an Lucas' Fingerspitzen vorbei. Die Leere der Berührung fühlte sich nicht wie ein Stoff an, der sich über eine Person legt. Es war eher wie Stoff, der an einer leblosen Schaufensterpuppe hing.
Lucas' Hand erstarrte in der Luft. In diesem Moment fühlte es sich an, als wäre die Luft um ihn herum erstarrt und hätte nur dieses kalte, hohle Gefühl an seinen Fingerspitzen hinterlassen.
Schmerz und Verzweiflung blitzten in seinen Augen auf, und sein Herz fühlte sich an, als hätte eine unsichtbare Hand es fest umklammert, jeder Schlag pochte mit dumpfer Qual.
Einst war ihr Blick ihm immer gefolgt, voller Vertrauen und Abhängigkeit.
Sie waren zusammen im Waisenhaus aufgewachsen und hatten sich gegenseitig gestützt. Wenn er ihren Namen rief, hatte sie immer gelächelt und geantwortet: „Luca, ich bin da.“
Aber jetzt hatte die Zeit alles verändert.
Sie schaute durch ihn hindurch, als ob er nicht existierte, und wollte ihm nicht einmal in die Augen sehen.
Lucas' Lippen zitterten leicht. Er wollte sprechen, aber seine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, unfähig, einen Laut von sich zu geben.
Lauren stieg ins Auto ein und setzte sich auf den Rücksitz. Alles in Sichtweite trug Spuren einer anderen Frau.
Der Beifahrersitz hatte ein flauschiges rosa Kissen. Das Armaturenbrett war mit einer ganzen Reihe von niedlichen Bärenfiguren ausgekleidet. Im Rückspiegel sah das Spiegelbild der Frau reifer aus als vor fünf Jahren, verführerischer.
Sie strahlte, ein Lächeln, wie es nur jemand haben kann, der in Komfort und Luxus aufgewachsen ist.
Dieses Glück auf ihrem Gesicht war wie ein stummer Spott, der Lauren als falsche Erbin verhöhnte.
Sie hatte geglaubt, sie könne all dem gleichgültig gegenüberstehen. Aber es mit ihren eigenen Augen zu sehen, hinterließ immer noch einen bitteren Stich in ihrer Brust.
Lauren wich ihrem Blick aus, doch ihre Augen landeten ungewollt auf der Handtasche neben ihr.
Darin befand sich ein makelloses weißes Kleid. Auch ohne das ganze Kleid zu sehen, ließen die komplizierten Federverzierungen auf seine Eleganz schließen.
Ihre Finger rieben unbewusst über den rauen Jeansstoff ihrer Hose.
Jedes Detail im Inneren des Wagens erinnerte sie daran, dass sie nicht hierher gehörte.
Von Kopf bis Fuß war sie nicht einmal so viel wert wie das Kleid in dieser Handtasche.
Sie drehte sich um und schaute aus dem Fenster. Die Landschaft verschwamm in einem schnellen Rückzug.
Elliot, der immer noch fuhr, vergaß nicht, sie zu warnen: „Mama und Papa haben dich in den letzten fünf Jahren so sehr vermisst. Sie haben jeden Tag um dich geweint und ihre Haare sind vor Sorge grau geworden. Wenn du nach Hause kommst, halte dein Temperament im Zaum. Ich will nicht, dass du wieder gegen Willow intrigierst und ihnen das Leben schwer machst. Solange du dich benimmst, wird dich die Familie Bennett nicht ungerecht behandeln.“
Auf seine Worte folgte Schweigen.
Als er keine Antwort hörte, runzelte Elliot verärgert die Stirn und blickte sie durch den Rückspiegel an.
„Lauren, ich rede mit dir. Hast du mich verstanden?“
Lauren sah endlich zu ihm auf und sprach den längsten Satz, den sie seit ihrer Entlassung aus dem Gefängnis gesagt hatte.
„Nach Artikel 48 des Strafvollzugsgesetzes dürfen Insassen einmal im Monat für dreißig Minuten bis eine Stunde Besuche von Familienangehörigen oder Erziehungsberechtigten empfangen. Ich war fünf Jahre lang inhaftiert; das sind sechzig Monate. Wenn ich einen Besuch pro Monat hatte, hätte ich sie sechzig Mal sehen können. Aber ich habe sie nicht ein einziges Mal gesehen. Du sagst, deine Eltern haben mich vermisst. Warum sind sie dann nicht gekommen? Waren sie so beschäftigt, dass sie nicht einmal dreißig Minuten im Monat erübrigen konnten?“
Ihre Stimme war ruhig, aber jedes Wort war wie eine Klinge, die gnadenlos durch seine Lüge schnitt.
Schuldgefühle und Panik flackerten in Elliots Augen auf. Der Vorwurf, den er vorbereitet hatte, blieb ihm im Hals stecken und konnte nicht herauskommen.
Er wich ihrem ruhigen, aber durchdringenden Blick aus und krallte seine Finger instinktiv um das Lenkrad, wobei seine Knöchel durch den Druck weiß wurden.
„Es... Es liegt daran, dass du zu schwer zu erziehen warst. Mama und Papa haben dich nicht besucht, weil sie wollten, dass du dich darauf konzentrierst, dein schlechtes Verhalten zu korrigieren. Sie haben es zu deinem eigenen Besten getan.“
Zu meinem eigenen Besten? Mich für Willow büßen zu lassen, mich im Gefängnis leiden zu lassen... Das ist also ihre Idee zu meinem Besten. Was für ein Witz.
Lauren fühlte sich ausgelaugt und hatte keine Lust mehr, sich zu streiten. Sie wandte ihren Blick wieder zum Fenster.
Es dauerte nicht lange, bis der Wagen in die Garage der Bennett Residence einfuhr.
Elliot schien erfreut. Er schnappte sich die Handtasche vom Rücksitz und eilte davon.
Ein paar Schritte weiter erinnerte er sich plötzlich an Lauren. Sein Körper versteifte sich, und als er sich umdrehte, war immer noch eine Spur von Unbeholfenheit in seinem Gesicht zu sehen.
„Ziehe dich ein ordentliches Kleid an und gehe zum Festsaal.“
Damit ging er, ohne sich umzudrehen.
Nach fünf Jahren war dieses Haus für Lauren immer noch so ungewohnt wie eh und je.
Sie hatte hier nie auch nur einen Funken Wärme gespürt.
Dieser Ort war nicht einmal so gut wie das Waisenhaus.
Im Waisenhaus hatte sie zwar kein eigenes Zimmer gehabt, aber wenigstens einen Schlafsaal mit Sonnenlicht.
Wenn die Sonne aufging, strömte das Licht durch die Fenster und erfüllte den Raum mit Wärme.
Damals liebte sie den Duft von Decken, die im Sonnenlicht lagen. Es gab ihr das Gefühl, ein Zuhause zu haben.
Aber nachdem sie hierher zurückgekehrt war, stellte sie fest, dass ihr so genanntes Zuhause nicht der Duft sonnengewärmter Decken war.
Es war der feuchte, muffige Gestank eines Ortes, den die Sonne nie erreichte.
Sie stieß die Tür auf.
Der Raum war klein, fensterlos und vollgestopft mit Gerümpel.
Die einzigen zwei Möbelstücke waren ein einzelnes Klappbett und ein alter Schreibtisch.
Dies war der Lagerraum, der ihr drei Jahre lang als Schlafzimmer gedient hatte.
Elliot hatte ihr gesagt, sie solle einen richtigen Kittel tragen.
Aber sie hatte nie eins besessen.
Jahrelang hatte sie nur einen Satz ihrer Highschool-Uniform besessen. Das T-Shirt und die Jeans, die sie jetzt trug, hatte sie mit dem Geld gekauft, das sie bei einem Ferienjob bei Amazon verdient hatte, für insgesamt fünf Dollar.
Sie erinnerte sich noch an den Tag, an dem sie sie freudig angezogen und Elliot gefragt hatte, wie sie aussah.
Er hatte angewidert die Stirn in Falten gelegt.
„Was zum Teufel hast du da an? Kannst du nicht lernen, dich elegant und angemessen zu kleiden wie Willow? Zieh es aus und wirf es weg! Mach unsere Familie nicht lächerlich.“