Kapitel 7 Betteln auf der Straße
Laurens unerschütterlicher Blick schweifte über die vier Familienmitglieder, eines nach dem anderen.
David, Alice und Willow wandten ihre Augen ab, zu ängstlich, um ihrem Blick zu begegnen.
Selbst Elliot, dessen Gesicht vor Irritation angespannt war, schwankte unter dem scharfen Blick der Frau.
„Keiner will etwas sagen? Gut, dann werde ich es für dich sagen.“
„Als Herr Elliot den Talar erhielt, war er in perfektem Zustand. Die Sicherheitsaufzeichnungen beweisen, dass ich es auf dem Weg hierher nicht berührt habe, doch als es Willow erreichte, war es bereits beschädigt. Der wahre Schuldige ist also offensichtlich. Deshalb traut sich auch keiner von euch, die Aufnahmen zu überprüfen, denn sobald ihr das tut, könnt ihr mir das nicht mehr anhängen und mich zwingen, für jemand anderen den Kopf hinzuhalten. Ist es nicht so?“
Den Kopf für jemand anderen hinhalten.
Diese Worte schnitten wie ein Messer in Davids und Alices Herz und zwangen sie, sich an das zu erinnern, was vor fünf Jahren geschehen war.
Alice waren bereits die Tränen gekommen. „Laurie, so ist es nicht. Hör mir zu. Du und Willow, ihr seid beide meine Töchter. Ich liebe euch beide gleich sehr. Wie könnte ich es ertragen, dir weh zu tun?“
Wäre es vor fünf Jahren gewesen, als Lauren sich noch nach mütterlicher Liebe sehnte, wäre sie beim Anblick der weinenden Alice ganz weich geworden.
Aber nach fünf Jahren im Gefängnis erfüllten diese Worte sie mit nichts als Abscheu.
„Sag, was du willst. Es spielt keine Rolle mehr.“
Damit warf sie der Familie Bennett keinen weiteren Blick zu und wandte sich zum Gehen.
An der Ecke des Flurs stieß sie unerwartet mit Lucas zusammen.
Er stand schweigend da und hatte offensichtlich alles mitbekommen, was gerade passiert war.
Laurens Herz krampfte sich zusammen, aber sie blieb nicht stehen. Sie tat so, als würde sie ihn nicht sehen, und ging mit festen Schritten weiter.
Jeder Schritt fühlte sich an, als würde sie auf die rohen Wunden ihres eigenen Herzens treten. Sie wollte keine Verbindung zu ihm. Sie wollte nur diesem erstickenden Ort so schnell wie möglich entkommen.
Gerade als sie an ihm vorbeigehen wollte, ertönte seine vertraute, aber ferne Stimme sanft, aber bestimmt in ihrem Ohr.
„Laurie, ich glaube dir, dass du es nicht getan hast.“
Als sie diese Worte hörte, fühlte Lauren keinen Trost. Stattdessen stieg ein kalter, bitterer Spott in ihrem Herzen auf.
Dass er jetzt „glauben“ sagte, war geradezu lächerlich.
Sie hielt für den Bruchteil einer Sekunde inne, bevor sie ihren Schritt beschleunigte.
Wegen ihres verletzten Beins sah sie mit ihren eiligen Schritten aus, als würde sie in Schande fliehen, und ihre hinkende Gestalt wirkte schmerzlich bemitleidenswert.
Lucas hatte das Gefühl, als würden unzählige scharfe Nadeln in die weichste Stelle seines Herzens stechen. Der Schmerz breitete sich so intensiv aus, dass er fast daran erstickte.
Er wollte ihren Namen rufen, aber etwas schien ihm die Kehle zuzuschnüren und verhinderte, dass er einen Laut von sich gab.
Lauren schleppte ihren müden Körper zurück in den Lagerraum.
Langsam setzte sie sich auf das wackelige Klappbett, sie fühlte sich völlig ausgelaugt, als wäre alle Kraft aus ihr herausgesaugt worden. Die Erschöpfung brach über sie herein wie eine Flutwelle.
Ihr Blick war leer. Die Enttäuschung, die sie gegenüber dieser Familie empfand, war wie ein bodenloses schwarzes Loch, das den Rest an Verbundenheit, den sie noch hatte, verschluckte.
Die drei Jahre, die sie hier verbracht hatte, waren wie ein Gang auf der Klinge gewesen. Jede Sekunde war erfüllt von kalter Vernachlässigung, Missgunst und Schmerz und hinterließ so tiefe Narben, dass sie niemals verblassen konnten. Sie würde sich nie wieder in diesen Abgrund stürzen lassen.
Sie atmete tief durch und zwang sich, ihre Sachen zusammenzusuchen.
Als sie sich umsah, fand sie in dem schäbigen Zimmer kaum etwas, das ihr gehörte. Nur die Kleider, aus denen sie sich umgezogen hatte. Sie stopfte sie ohne zu überlegen in eine Plastiktüte.
Es war Zeit zu gehen.
Sie stand auf und griff nach der Tür.
Bevor ihre blassen, schlanken Finger den Türknauf berühren konnten, wurde die Tür von außen aufgestoßen.
Eine Frau in den späten Fünfzigern stand vor ihr.
Die Frau war einen Moment lang fassungslos beim Anblick von Lauren, dann brach ihr Gesicht in hemmungslose Freude aus, als sie aufgeregt ausrief: „Frau Bennett, du bist wieder da?“
Lauren erstarrte leicht. „Marilyn?“
Als sie Marilyn ansah, fühlte sie eine komplizierte Mischung aus Gefühlen.
In der gesamten Bennett-Familie hatte nur Marilyn sie jemals als die wahre Frau Bennett behandelt, während die anderen Bediensteten distanziert und gleichgültig blieben.
Für sie gab es nur eine wahre Frau Bennett, und das war Willow.
Was Lauren betraf, so wurde sie zwar mit Respekt angesprochen, aber das war nichts weiter als ein leerer Titel.
Im heißen Sommer, wenn sie durch das Eingesperrtsein in diesem stickigen Lagerraum einen Hitzeausschlag bekam, war es Marilyn, die ihr von ihrem eigenen Geld einen Ventilator kaufte.
Im eisigen Winter, wenn sie vor Kälte zitterte, war es Marilyn, die ihr eine Heizdecke kaufte, um sie warm zu halten.
Bei dem Gedanken daran wurden Laurens Augen unkontrolliert rot.
Marilyn, immer noch von ihren Gefühlen überwältigt, bemerkte schließlich die Plastiktüte in Laurens Hand.
„Frau Bennett, gehst du?“
Lauren wollte etwas sagen, zögerte aber, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Schließlich nickte sie nur stumm.
Marilyns Augen füllten sich mit Traurigkeit. Sie wollte sie bitten zu bleiben, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken und kamen nicht heraus.
Sie wusste nur zu gut, wie Lauren in der Bennett-Familie gelebt hatte und sich jeden Tag auf dünnem Eis bewegte.
Sie hatte all die kalten Blicke gesehen, die Ungerechtigkeiten, das stille Leiden. Sie konnte es nicht ertragen, dass sie in dieser H*lle leben musste.
Mit einem hilflosen Seufzer sagte sie: „Frau Bennett, ich werde dich nicht daran hindern zu gehen, aber lass mich erst deine Wunden behandeln.“
Laurens Gesichtsausdruck war gleichgültig. „Es ist nur eine kleine Verletzung. Ich bin daran gewöhnt.“
Als Marilyn das hörte, fühlte sie einen Schmerz in ihrem Herzen.
Wie viel hatte sie durchgemacht, dass sie so gefühllos gegenüber ihren eigenen Wunden wurde?
Wut brannte in Marilyn, aber als einfache Dienerin hatte sie keine Macht, gegen die Familie Bennett zu sprechen. Sie konnte nichts tun.
Sie unterdrückte ihren Herzschmerz und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. „Frau Bennett, du hast noch nichts gegessen, seit du zurückgekommen bist. Lass mich dir etwas zu essen machen, bevor du gehst."
Lauren lehnte erneut ab. „Nicht nötig.“
Nachdem sie das gesagt hatte, merkte sie, dass sie vielleicht zu kalt geklungen hatte, und fügte hinzu: „Wenn ich früher gehe, habe ich mehr Zeit, mir eine Unterkunft zu suchen.“
In Wahrheit wollte sie einfach nichts von der Familie Bennett essen.
Sie hatte jetzt nichts mehr - kein Geld, keine Gesundheit, nichts mehr außer einem Rest von Würde.
Selbst wenn sie auf der Straße betteln müsste, würde sie das lieber tun, als hier zu bleiben und ihren Spott zu ertragen.
Jeder konnte auf sie herabsehen, aber nicht die Familie Bennett.
Die Familie Bennett schuldete ihr zu viel.
Sie hatten es nicht verdient, sie so zu behandeln.
„Marilyn, ich gehe jetzt.“
Marilyn holte voller Sorge ein Bündel Bargeld aus ihrer Tasche und drückte es Lauren in die Hand.
„Frau Bennett, nehmen Sie das und verwenden Sie es. Du musst da draußen auf dich selbst aufpassen.“
Während sie sprach, liefen schließlich Tränen über Marilyns Wangen.
Lauren wollte sich weigern, aber Marilyn blieb standhaft. „Du bist eine junge Frau, die allein da draußen ist. Du kannst nicht einfach unter einer Brücke schlafen.“
Lauren biss die Zähne zusammen, ihre stummen Tränen fielen.
Selbst jemand, der nicht mit ihr verwandt war, wusste, wie man sich um sie kümmerte. Aber ihre eigenen Eltern und ihr Bruder hatten sich nie um sie gekümmert.