Kapitel 1 Neue Welt, Neuer Körper, Offenes Mikrofon
Jean Ginger war tot.
Sie hatte es ganz allein geschafft und finanzielle Freiheit erreicht, noch bevor sie dreißig wurde. Doch dann, von einem Moment auf den anderen, riss ein Autounfall alles weg.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie in einem lächerlich verschnörkelten Prinzessinnenbett.
Das Kopfteil war übersät mit Plüschtieren, die aussahen, als gehörten sie in ein Puppenmuseum.
Ihr Kopf dröhnte, während Erinnerungen, die nicht ihre eigenen waren, auf sie einstürmten.
Das kann doch nicht wahr sein.
Sie war in ein Buch gefallen.
Warum musste ausgerechnet ihr so ein kitschiger Plot-Twist passieren?
Jean lebte fürs Geld. Ihr Leben war ein einziger Hustle. Wäre da nicht diese eine schlaflose Nacht gewesen, an der sie auf einer dubiosen Roman-Seite gelandet war...
Sie hätte diesen trashigen Titel, Die wahre Erbin erwacht, niemals angeklickt.
Die Story war so klischeehaft und übertrieben, wie es nur geht. Die wahre Erbin, Sarah, hatte alles – und die ganze Welt lag ihr zu Füßen.
In ihrem früheren Leben hatte Sarah es schwer. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf dem Land auf, schaffte es irgendwann nach Blairford, nur um dort von der feinen Gesellschaft zerdrückt zu werden. Sie heiratete den Falschen, litt still und starb mit gebrochenem Herzen.
Erst ganz am Ende erfuhr sie die Wahrheit.
Sie war die wahre Tochter einer der Elitefamilien von Blairford.
Mit einer zweiten Chance im Leben schwor Sarah sich: Sie würde sich alles zurückholen.
Sie rannte nach Blairford, um ihren Platz einzufordern, demütigte die falsche Erbin, die sie früher immer getreten hatte, und gewann mühelos die Herzen ihrer reichen leiblichen Eltern und ihrer fünf mächtigen Brüder.
Und weil es noch nicht genug war, schnappte sie sich auch noch den Verlobten der falschen Erbin.
Natürlich war er der offizielle männliche Hauptcharakter der Geschichte.
Sarah stieg direkt an die Spitze. Die falsche Erbin hingegen verlor alles, wurde von allen gehasst und landete schließlich in einer Anstalt.
Und wie es der Zufall wollte – Jean war genau in den Körper dieser falschen Erbin mit dem tragischen Ende geraten. Sie hatten sogar exakt denselben Namen.
Sie stöhnte und rieb sich die Schläfen.
Sollte ich schon mal meine Sachen packen und mir ein VIP-Zimmer in der Psychiatrie reservieren?
Jean kletterte aus dem Bett – und erstarrte. Sie war kleiner. Viel kleiner. Mindestens einen halben Kopf hatte sie eingebüßt.
Ihre langen, eleganten Gliedmaßen waren zu pummeligen Ärmchen und stämmigen Beinchen geschrumpft.
Die falsche Erbin, zu der sie geworden war, war erst dreizehn Jahre alt.
Der Vorteil? Die wahre Erbin war noch nicht aufgetaucht, um ihr das Leben zu ruinieren.
Der Nachteil? Sie würde kommen – nur eben erst in ein paar Jahren.
Ding-dong.
Ihr Handy leuchtete auf dem Nachttisch mit einer Nachricht.
Jean tippte sie an. Es war eine Bankbenachrichtigung.
Ihr Konto war gerade mit 70.000 Dollar gutgeschrieben worden.
Moment mal.
Siebzigtausend Dollar?
Sie zählte die Nullen, als hinge ihr Leben davon ab. Ja. Siebzigtausend Dollar.
Ihr Kopf hörte auf zu pochen. Ihr Rücken tat nicht mehr weh. Plötzlich fühlte sie sich wie ein neuer Mensch.
Falsche Erbin? Kein Problem. Nehme ich.
Diese 70.000 waren nur das Taschengeld für einen Monat. Sie musste keinen Finger rühren. Alles, was sie tun musste, war daliegen und zusehen, wie das Geld eintrudelte.
In ihrem früheren Leben hatte Jean sich kaputtgearbeitet, nur um irgendwann mal entspannt leben zu können. Und jetzt? Jetzt konnte sie von Anfang an das süße Leben genießen.
Sie hatte nicht vor, sich mit der wahren Erbin anzulegen.
Mal ehrlich. Das war Sarah – der eigentliche Star der Geschichte.
Sie selbst war nur eine Nebenfigur zum Wegwerfen. Womit sollte sie überhaupt kämpfen?
Besser zurücklehnen, abkassieren und das Leben genießen.
"Ich habe Fräulein Ginger zum Abendessen gerufen, aber sie ist immer noch in ihrem Zimmer. Sie hat mir nicht geantwortet..."
Die Stimme des Hausmädchens drang zögerlich aus dem Flur.
"Ich sehe nach ihr."
Diese Stimme war tief und ruhig, mit einer kühlen Schärfe, die keine Widerrede duldete. Es war keine Bitte. Es war ein Befehl.
Keine Sekunde später.
Die Schlafzimmertür öffnete sich.
Jeans Reflexe setzten ein. Sie schnappte sich das Plüschtier neben sich und zog es wie einen Schutzschild an sich.
Ihr Haar war zu zwei Zöpfen gebunden. Ihre Augen wurden groß, rund und glänzend wie schwarze Trauben, was ihr winziges, schneeweißes Gesicht noch kleiner wirken ließ.
Sie drückte ein langohriges Kaninchen an die Brust, sah mit großen, unschuldigen Augen verloren aus – das perfekte Bild von süßer, ahnungsloser Unschuld.
Genau das sah Dominic, als er eintrat.
Jean musterte ihn ebenfalls – den Mann, der gerade hereingekommen war: Dominic Ginger.
Die Familie Ginger war in Blairford praktisch Adel. Mächtig, wohlhabend, bewundert. Und ihre Kinder? Allesamt Überflieger.
Die fünf Ginger-Brüder waren jeder für sich eine Berühmtheit. Jeder hatte ordentlich Einfluss.
Und dann gab es noch das Nesthäkchen. Die ursprüngliche Jean. Unsicher. Durchschnittlich. Auf die falsche Art seltsam.
Sie sprach kaum, öffnete sich nie, hatte die Ausstrahlung von labbrigem Toastbrot. Ihr Verhältnis zur Familie war ein einziges Desaster. Die Gingers gaben ihr alles, was sie brauchte, aber Liebe? Wärme? Fehlanzeige.
Als dann die wahre Erbin auftauchte – charmant, klug, einfach liebenswert – dauerte es nicht lange, bis die ganze Familie das Lager wechselte. Mutter, Vater und alle fünf Brüder begannen, Sarah zu vergöttern, als wäre sie schon immer ihre Tochter gewesen, während die ursprüngliche Jean an den Rand gedrängt und vergessen wurde.
Dieser Wechsel war ein Hauptgrund, warum es für sie so schlimm endete.
Jean unterdrückte ein Grinsen.
Die Familie Ginger kann so reich und mächtig sein, wie sie will. Und diese ach so tollen Brüder? Mir doch egal.
Sie hatte das Buch gelesen. Sie wusste genau, wie es weiterging.
Abgesehen von der Heldin wurde jeder einzelne Ginger zum Bösewicht.
Der Roman war riesig – fast eine Million Wörter. Die erste Hälfte? Reine Machtfantasie. Alles drehte sich darum, wie Sarah aufstieg und sich alles zurückholte. Aber dann wurde es chaotisch. Richtig chaotisch. Wendungen, Verrat, Drama ohne Ende.
Die mächtigen Familien von Blairford gerieten in einen Krieg, und die Gingers wurden mitten hineingezogen. Einer nach dem anderen verloren ihre Eltern und Brüder den Verstand. Sie wurden reingelegt, verdreht, zu regelrechten Psychopathen.
Sarah, die edle, gerechtigkeitsliebende Hauptfigur, musste schließlich gegen ihre eigene Familie antreten.
Kurz gesagt: Das Ginger-Imperium war dem Untergang geweiht.
Nicht, dass das für Jean noch eine Rolle gespielt hätte.
Sie wäre zu dem Zeitpunkt längst aus der Geschichte geschrieben, würde in ihrer Luxussuite in der Psychiatrie chillen und ihr Geld stapeln wie die Nebenfigur mit frühem Abgang, die sie war.
Jean musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu sehen. Dominic ragte über ihr auf wie ein Wolkenkratzer.
Sein Blick war intensiv – dunkel, scharf, undurchschaubar. Ein Blick, der durch Mark und Bein zu schneiden schien.
Und ja, der Typ war umwerfend. Markante Wangenknochen, makellose Züge, als hätte ihn jemand mit obsessiver Präzision aus Marmor gemeißelt.
"Abendessen. Jetzt."
Dominic Ginger, der älteste Sohn der Familie. Sprach, als würde er das Haus führen – was vermutlich auch stimmte. Seine Stimme war tief und nüchtern, ohne jede Spur von Wärme oder Gefühl.
Jeans Blick glitt zu seinem Anzug. Makellos. Maßgeschneidert. Unfassbar formell für jemanden, der einfach nur im Flur zu Hause stand.
Macht der eigentlich jemals Pause? Wer läuft denn nach Feierabend so rum?
Ihre kindliche Stimme klang in ihrem Kopf glasklar.
Dominics Blick verharrte.
Wenn er sich nicht täuschte, hatte er gerade –
Jean gehört.
Nur hatte das Mädchen vor ihm den Mund gar nicht geöffnet.
Dominics Augen verengten sich minimal. Sein Gesicht blieb kühl und undurchschaubar, doch ehe er sich versah, entfuhr ihm eine Antwort – als würde er auf etwas reagieren, das nur er hören konnte.
"Ich komme gerade von der Arbeit."
Also deshalb war er wie eine wandelnde Visitenkarte gekleidet.
Jean erstarrte.
Sie hätte nie erwartet, dass ausgerechnet dieser eiskalte große Bruder... so viel sagen würde. Das war mehr, als sie je von ihm gehört hatte.
"Oh, okay..." sagte sie laut, drückte ihr Schlappohr-Kaninchen und nickte brav wie ein gutes Schwesterchen. Innerlich aber war sie völlig aus dem Häuschen.
Heilige Makrele! Was geht hier ab? Ist die Sonne heute im Westen aufgegangen? Der Typ redet sonst nie. Hat er sich den Kopf gestoßen oder was?
Dominics Kiefer spannte sich an.
In diesem Moment fiel alles an seinen Platz.
Er konnte Jeans innere Stimme hören.