Kapitel 5 Wer würde nicht verrückt werden, wenn er zu Unrecht beschuldigt wird?
Jean lächelte schwach, doch ihre Augen waren eiskalt. „Eigentlich bin ich wirklich leicht im Umgang. Wenn das nicht klappt, solltet ihr euch vielleicht mal selbst genauer anschauen.“
Sie schüttelte bedauernd den Kopf. „Schüttelt mal eure Köpfe, vielleicht hört ihr das Meer darin rauschen. Oder sind eure Köpfe einfach nur leer? Anders kann ich mir nicht erklären, wie ihr auf so eine Idee kommt.“
Jeans Worte trafen ins Schwarze, und einige der Schüler wurden tatsächlich blass.
Im Klassenraum breitete sich eine schwere Stille aus. Niemand sagte ein Wort. Niemand dachte auch nur daran, zu widersprechen.
In diesem Moment—
Das scharfe Klacken von High Heels hallte von hinten durch den Raum.
Klassenlehrerin Wendy war gerade an der Tür angekommen.
Sie war erst eben eingetroffen, hatte aber noch die letzten Worte von Jean mitbekommen.
Wendy verengte die Augen und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Ihre Stimme war kalt und streng. „Was geht hier vor?“
Die Schüler verhielten sich, als wären sie gerade gerettet worden. Alle atmeten erleichtert auf.
„Frau Wendy.“ Ein großes, schlankes Mädchen hob schnell die Hand. Ihre Haut war blass, die Gesichtszüge zart, und ihre Stimme war sanft und luftig wie eine Frühlingsbrise. „Jean hat eben die anderen angeschrien.“
Ohne zu zögern, schob sie Jean im Handumdrehen die Schuld in die Schuhe.
Jean sah zu ihr hinüber.
Das Mädchen hieß Lacey. Eine bekannte Erbin an der Akademie.
Im Gegensatz zu Jean stand sie immer im Mittelpunkt.
Wendy nickte und stellte Laceys Worte überhaupt nicht in Frage.
Die Lehrer an der Stellarford Akademie standen unter großem Druck.
Natürlich kamen sie aus guten Familien und hatten beeindruckende Lebensläufe, aber vor diesen privilegierten Erben waren sie selbst die Schwächeren.
Sie mussten einen schmalen Grat gehen. Streng genug, um Ordnung zu halten, aber nie so weit, dass sie Grenzen überschritten—
Zum Beispiel, indem sie einen von ihnen verärgerten.
Die Konsequenzen wären nicht tragbar.
Und in Wendys Augen war Jean eindeutig eine Ausnahme.
Ihr Hintergrund war undurchsichtig. Ihre Eltern waren praktisch unsichtbar. Es gab sogar Gerüchte, sie sei die uneheliche Tochter eines Schulangestellten und habe sich durch diese Verbindung einen Platz an der Schule verschafft.
Selbst wenn es nur ein Gerücht war, glaubten die meisten daran.
Jean wirkte überhaupt nicht wie ein reiches Mädchen.
Sie schien unsicher, zurückgezogen.
Wenn sie wirklich das geheime Kind eines Lehrers war, würde das alles erklären.
Wendy mochte Jean nicht.
Nicht nur wegen ihrer angeblich einfachen Herkunft – auch ihre Noten waren miserabel.
Sie war das Mädchen, das außer einem gewissen Niedlichkeitsfaktor nichts zu bieten hatte. Nichts an ihr lud dazu ein, Zeit mit ihr zu verbringen.
Für Wendy war die Sache klar. Lacey war eine wohlerzogene junge Dame, deren Ruf es zu schützen galt. Jean—
War nur ein Störfaktor, den sie nach Belieben zurechtweisen konnte.
„Frau Lehrerin.“
Jean weigerte sich, klein beizugeben, und verteidigte sich sofort: „Ich schwöre bei Gott, wenn ich eben wirklich jemanden beleidigt habe, dann soll ich für den Rest meines Lebens nur noch Haferbrei essen.“
Was sie gesagt hatte, konnte man wirklich nicht als Beleidigung werten. Höchstens als passiv-aggressiv.
Wendys Gesicht wurde kalt. Sie nahm Jeans Worte offensichtlich nicht ernst.
War dieses Mädchen nicht sonst immer still und zurückgezogen? Seit wann war sie so schlagfertig?
„Ich brauche keine Schwüre von dir“, sagte sie mit zusammengepressten Lippen. Ihr Ton war streng. „Ich will, dass du lernst, Fehler einzugestehen.“
Jean verstand sofort – diese Frau hatte ihr Urteil längst gefällt.
Mit einem harmlosen Lächeln sagte sie: „Vielleicht sollten Sie sich erst mal meine Hose anschauen.“
Während sie sprach, drehte sich Jean um und zeigte Wendy ihren Rücken.
„Du...“ Wendy starrte auf die knallrote Farbe, die Jeans Hose verschmierte, und riss die Augen auf. „Was ist mit dir passiert?!“
„Die gleichen Leute, die behauptet haben, ich hätte sie angeschrien. Die waren’s.“ Jean blinzelte sie an, griff nach der Farbe an ihrer Hose und wischte sie dann an Wendys Ärmel ab. „Sehen Sie selbst. Das ist echte Farbe. Ist das nicht ekelhaft?“
Wendy fuhr erschrocken zurück, wütend, und schlug Jeans Hand weg. Ihr Gesicht verzog sich vor Abscheu. „Jean, bist du verrückt?!“
Sie sah aus, als wolle sie sich am liebsten sofort den Arm schrubben.
„So schlimm ist es nicht.“ Jean lächelte gelassen, völlig unbeeindruckt. „Wenn man für etwas beschuldigt wird, das man nicht getan hat, würde man da nicht auch ein bisschen verrückt werden? Oder was meinen Sie?“
Am Ende wurde Jean ins Büro „eingeladen“.
Wendy machte sie dort sofort zur Schnecke. Kein einziges freundliches Wort, keine Rücksicht.
Dann bekam Jean eine Strafe: Sie sollte auf dem Sportplatz Müll aufsammeln. Erst wenn sie genug gesammelt hatte, durfte sie zurückkommen.
Jean wollte zuerst nicht gehen.
Aber nach kurzem Überlegen war ihr klar: Hier zu bleiben, wäre nur noch frustrierender. Dann lieber an die frische Luft.
Gerade als sie das Büro verlassen wollte, kam ein Mädchen mit geradem Pony und hohem Pferdeschwanz auf sie zugelaufen.
„Jean!“
Sie keuchte, völlig außer Atem, und rang nach Worten.
Jean blieb stehen.
„Hier“, sagte das Mädchen plötzlich, zog eine schwarze Jogginghose hinter ihrem Rücken hervor und reichte sie Jean. „Nimm die.“
„Deine Hose ist schmutzig. Geh dich schnell umziehen. Wir sind ungefähr gleich groß, die sollte passen.“
Jean blinzelte ein paar Mal und musterte das Mädchen vor sich.
Wenn sie sich richtig erinnerte, hieß sie Sofia.
Sie war wahrscheinlich die Einzige in der Klasse, die die Protagonistin je wie einen normalen Menschen behandelt hatte.
Natürlich hatte Jean nicht viele Informationen.
Sofia war eine Nebenfigur im Buch, sie kam kaum vor. Die Erinnerungen der Protagonistin an sie waren lückenhaft. Aber es reichte.
Als Jean sicher war, dass das Mädchen es ehrlich meinte, lächelte sie und nahm die Hose. „Danke.“
Sie hatte sowieso vorgehabt, sich zu säubern und umzuziehen, bevor sie auf das Feld ging.
Jetzt, wo ihr jemand half, warum sollte sie ablehnen?
Nachdem sie sich umgezogen hatte, ging Jean hinaus auf das Feld, in der prallen Sonne.
Jetzt war es offensichtlich – Wendy war jemand, der Menschen nach ihrem Hintergrund beurteilte.
Im Gegensatz zu ihren auffälligen, extrovertierten Brüdern hatte die Protagonistin in der Schule immer ein extrem unauffälliges Leben geführt. Sie prahlte nie mit ihrer Familie, ihre Kleidung und ihre Sachen waren das Nötigste.
Fast niemand wusste, dass sie die jüngste Tochter der Familie Ginger war.
Tatsächlich – nicht nur in der Schule, sondern in der gesamten gehobenen Gesellschaft kannte kaum jemand ihren Namen.
Die Protagonistin war zurückhaltend und mied Gesellschaft, fast so, als hätte ihre Familie sie absichtlich versteckt. Man konnte die Leute, die ihren Namen kannten, an einer Hand abzählen.
Das machte sie zum perfekten Ziel in einer Schule voller Elitekinder.
Jean wirkte, als hätte sie mit keinem von ihnen etwas zu tun.
Wendy? Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, genau solche Leute herauszupicken.