Kapitel 2 Die Tragödie hinter dem perfekten Bruder
Dominics Gesicht verriet nichts. Er sah sie einfach nur an, mit Augen, die wie tiefes Wasser zu schwanken und zu verdunkeln schienen.
Dann sagte Dominic – absolut nichts.
So gelassen wie immer, wandte er den Blick ab, als wäre nichts geschehen, und ging auf die Treppe zu.
Jean starrte seinem Rücken hinterher, während ihre Gedanken Purzelbäume schlugen.
Im Ernst? Das war’s? Er geht einfach weg? Ich war mir sicher, er wollte noch etwas sagen...
Dominic blieb mitten im Schritt stehen.
Und dann—
Jean blinzelte, als er plötzlich wieder zurückkam. Gleiche ruhige, leise Stimme. Gleicher distanzierter Tonfall.
„Willst du... mit mir zu Abend essen?“
……
Im großen, stilvollen Esszimmer saß Jean plötzlich Dominic direkt gegenüber.
Er aß, als wäre er in einer Werbesendung. Völlig still, perfekt aufrecht, seine Lippen bewegten sich kaum, und kein einziges Geräusch kam von seinem Besteck.
Jean blickte auf ihren Teller.
Brokkoli. Mais. Salat. Und ein Steak, das noch blutete.
So stellen sich Reiche also gesundes Essen vor...
Innerlich schrie sie.
Dieses Abendessen ist die reinste Strafe!
Dominics Finger am Besteck wurden für einen Moment langsamer.
Jean schnitt weiter in ihr Steak, während ihre Gedanken abschweiften.
Buffalo Wings. Chili Dogs. Überbackene Nachos. Das ist richtiges Essen. Wer will schon auf einem halbrohen Steak herumkauen, wenn man stattdessen etwas Knuspriges, Fettiges haben könnte... ein bisschen Käse schmelzen, Jalapeños und scharfe Soße dazu... mmh, das ist Geschmack...
Dominic legte plötzlich Gabel und Messer beiseite. Sein Gesicht blieb undurchschaubar.
„Du magst so ein Essen nicht?“
Dominics Frage riss Jean abrupt aus ihren kulinarischen Tagträumen.
Sie blinzelte überrascht und schüttelte dann schnell den Kopf.
Sie war neu hier. Sie wollte freundlich, höflich, sympathisch wirken.
Also verzog sie die Lippen zu einem fröhlichen, wohlerzogenen Lächeln.
„Nein... ich bin überhaupt nicht wählerisch, Dominic.“
Dann spießte sie ein Stück von dem blutigen Steak auf und schob es sich in den Mund, kaute und nickte, als würde sie es wirklich meinen.
„Wirklich... es ist gar nicht schlecht...“
Währenddessen schrie ihr Kopf etwas ganz anderes.
Gar nicht schlecht, von wegen. Ich spiele nur Theater. Das ist alles gelogen...
Dominic schwieg einen Moment, dann sagte er ernst:
„Wenn du es nicht essen willst, lass es.“
Er wollte rücksichtsvoll sein, aber sein steifer, sachlicher Ton ließ es wie einen Befehl klingen.
Jeans Augen wurden groß.
Innerlich geriet sie in Panik.
Ah! Er hat mich gerade angefahren!
Dominics Mundwinkel spannten sich.
Jean wollte nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Sie riss die Augen auf und sah Dominic direkt an.
„Dominic, du warst gerade echt gemein...“
„War ich nicht.“
Der sonst so kühle Dominic tat etwas Ungewöhnliches – er wurde ein wenig sanfter, hielt seine Stimme ruhig und meinte es offenbar ernst.
Jean glaubte ihm kein Wort.
„Doch, warst du. Du hast mich direkt angesehen und gesagt—“
Sie blähte die Wangen auf und zog eine ernste Miene, ahmte seinen kühlen Tonfall nach.
„Wenn du es nicht essen willst, lass es.“
Dominic blickte nach unten.
Seltsamerweise störte ihn ihr kleiner Ausbruch nicht.
Tatsächlich hatten er und Jean kaum miteinander gesprochen.
Sie hatte so gut wie nie ein Wort an ihn gerichtet.
Man konnte sie kaum als vertraut bezeichnen. Eher waren sie Fremde mit demselben Nachnamen.
Aber vielleicht... vielleicht hatte sich durch diesen seltsamen Moment, als er ihre Gedanken hörte, etwas verändert. Jean war nicht mehr nur eine verschwommene Gestalt im Hintergrund.
Sie war plötzlich real.
„Mr. Dominic, wegen morgen Nachmittag—“
Bryson betrat das Esszimmer, verstummte aber sofort, als er Dominic und Jean zusammen beim Abendessen sah. Ein kurzer Anflug von Überraschung huschte über sein Gesicht.
Das war offenbar nichts Alltägliches. Vielleicht war es sogar noch nie vorgekommen.
Dominic wandte sich ihm zu und nickte leicht, damit er fortfuhr.
Jean stützte das Kinn auf die Hand und musterte Bryson Jones beiläufig.
Also das ist Bryson, Dominics Assistent? Warum wirkt der irgendwie... langsam im Kopf?
Natürlich hatte Bryson keine Ahnung, was sie dachte. Er schenkte der jungen Dame der Familie Ginger ein höfliches Lächeln und wandte sich dann wieder seinem Chef zu.
„Mr. Dominic, Mr. Thomas hat gerade angerufen. Er wollte wissen, ob Sie morgen Nachmittag Zeit haben. Seine Schwester, Ms. Selena, ist wieder in der Stadt. Mr. Thomas hat schon öfter erwähnt, dass er Sie beide einander vorstellen möchte. Er wollte wissen, ob es morgen passt.“
Jeans Stirn legte sich in Falten.
Moment mal. Selena? Etwa die Selena Lawson? Die, die angeblich die schönste Frau in Blairford ist? Das ist nicht irgendein hübsches Gesicht. Das ist die, die Dominics ganzes Leben ruinieren wird!
Dominics Blick flackerte, und sofort verlagerte sich seine Aufmerksamkeit von Bryson zu Jean.
Jean saß immer noch da, das Kinn in der Hand, in Gedanken versunken.
Wer hätte gedacht, dass Dominic – cool, klug, unnahbar – sich in dem Moment, in dem er Selena trifft, in einen verliebten Trottel verwandelt. Der Mann wurde besessen. Arbeit war ihm egal. Er rannte ihr nur noch hinterher wie ein armer Tropf...
Dominics Hände spannten sich an. Er war ganz Ohr, als hinge sein Leben davon ab. Kein einziges Wort entging ihm.
Und diese Ms. Selena? Die war alles andere als ein Engel. Sie mochte ihn nie. Sie hat ihn und den Namen Ginger nur benutzt, um nach oben zu kommen. Dann hat sie ihn für jemand anderen sitzen lassen. Dominic hat ihr alles gegeben und nichts zurückbekommen. Am Ende ist er völlig abgedreht und wurde ausgeschaltet.
Früher hätte Dominic bei so einem Unsinn nur die Augen verdreht.
Aber jetzt? Er konnte ihre Gedanken hören. Und wenn das möglich war, war vielleicht auch das Wissen um die Zukunft nicht ausgeschlossen.
Vielleicht war das ein Zeichen. Vielleicht war seine Schwester gekommen, um ihn zu warnen.
Dominics Miene verdüsterte sich. Seine Stirn legte sich in Falten.
Die Lawsons hatten in Blairford durchaus einen gewissen Status, aber im Vergleich zur mächtigen Familie Ginger waren sie eher unbedeutend.
Thomas Lawson, der älteste Sohn, hatte in den letzten Jahren eine Führungsrolle übernommen. Er war freundlich, umgänglich und hatte sich mehr als einmal bemüht, eine Verbindung zu Dominic aufzubauen. Auch geschäftlich arbeiteten ihre Familien zusammen.
Mit der Zeit konnte man Dominic und Thomas zumindest oberflächlich als Freunde bezeichnen.
Thomas hatte immer wieder von seiner Schwester Selena geschwärmt, sie als die süßeste und schönste Frau überhaupt dargestellt. Er hatte klar gemacht, dass er wollte, dass sie sich kennenlernen.
Dominic hatte nichts dagegen gehabt.
Er hatte schon viele Frauen getroffen. Eine mehr oder weniger? Kein Thema. Es wäre nur ein weiterer gesellschaftlicher Gefallen gewesen, den er ohne zu zögern erledigt hätte.
Hätte er Jeans Gedanken nicht gehört, wäre er ohne weiteres hingegangen.
Aber jetzt...
„Sag Thomas, ich bin morgen beschäftigt“, sagte Dominic mit undurchschaubarem Gesichtsausdruck.
Bryson nickte. „Wird gemacht.“
Jean blinzelte langsam.
Thomas? Ach ja... der ist doch so ein hinterhältiger Typ...
Dominics Augen verengten sich leicht. Nach außen hin blieb er ruhig, aber innerlich hing er an jedem ihrer Gedanken.
Thomas ist die Definition von falsch. Ein echter Schleimer. Er hat sich von Anfang an an Dominic gehängt, nur wegen des Namens Ginger. Respektiert hat er ihn nie wirklich. Alles war berechnet...
Jean verzog das Gesicht.
Er hat sogar versucht, Leute aus Dominics Team abzuwerben, nur um seine eigene Macht zu stärken. Und als Dominic am Boden war und durchdrehte, war Thomas der Erste, der ihn verraten hat. Und dann hatte er auch noch die Frechheit, Dominic zu beschuldigen, er wolle seine Schwester ausnutzen. Im Ernst?
So sieht also Intrige auf höchstem Niveau aus. Das ist Drama der Extraklasse. Verrat im großen Stil. Und ich bin live dabei. Wahnsinn.
Sie blickte auf – und traf sofort Dominics Blick.
Sein Blick war intensiv. Kalt. Fokussiert. So sehr, dass ihr Herz plötzlich einen Schlag aussetzte.