Kapitel 1 Ihr Ehemann hat wieder geheiratet
„Wir haben Ihren Fall untersucht. Sie galten fünf Jahre lang als vermisst. Vor zwei Jahren hat Ihr Ehemann Sie offiziell für tot erklären lassen und aus den amtlichen Unterlagen streichen lassen. Wir haben es geschafft, ihn zu erreichen, aber … Sie sollten sich darauf vorbereiten. Er hat wieder geheiratet.“
Kelly Yeager saß wie erstarrt auf ihrem Stuhl im Polizeirevier und versuchte, die Worte des Beamten zu begreifen. Alles fühlte sich so unwirklich an.
Vor fünf Jahren war sie mit einem Ärzteteam nach Oasisvale gereist, um dort Hilfe zu leisten, nur um von Terroristen als Geisel genommen zu werden. Nach all dem Leid waren sie und ihr Team schließlich von Friedenstruppen gerettet worden, sodass sie endlich nach Hause zurückkehren konnte.
Der Gedanke an ihren Ehemann, Eric Gray, hatte sie all die Jahre über aufrechterhalten. Seit dem Tag, an dem sie sich im College kennengelernt hatten, bis zu ihrer Hochzeit war ihre Liebe alles für sie gewesen. Er war ihre ganze Welt.
Oft hatte sie sich ihr Wiedersehen ausgemalt – vielleicht würden sie sich unter Tränen in die Arme fallen, überwältigt vom Wunder, einander wiedergefunden zu haben. Doch niemals hätte sie erwartet, in ein Leben zurückzukehren, in dem er längst weitergezogen war.
Draußen lag die Stadt Seaville in Drakonia im warmen Licht des Frühlings. Die Blätter flüsterten im Wind, und das Sonnenlicht tauchte alles in sanftes Gold.
Kelly saß am Fenster und streckte gedankenverloren die Hand aus, als wollte sie etwas Vertrautes greifen.
Fünf Jahre Wüstenleben hatten sie zu einer Fremden in der Welt gemacht, die sie einst gekannt hatte. Die Schrecken, die sie erlebt hatte, hatten ihr die Sprache geraubt – ihr Trauma zeigte sich als Aphasie.
Am Tag ihrer Rettung hatte sie geweint, als würde sie endlich all die Angst und Trauer loslassen, die sich über die Jahre angesammelt hatten. Sie hatte geglaubt, dass ihr Herz heilen würde, sobald sie Eric wiedersehen würde.
Doch die Realität schlug ihr ins Gesicht.
Eric hatte sie im dritten Jahr ihres Verschwindens aus seinem Leben gestrichen. Nicht lange danach hatte er eine andere geheiratet.
Die Tür des Polizeireviers schwang auf, und ein Mann stürmte herein, das Gesicht voller Anspannung. Obwohl fünf Jahre vergangen waren, hatte sich sein Aussehen kaum verändert – nur eine neue Reife und Ruhe lagen in seinem Wesen.
Sein maßgeschneiderter Anzug ließ keinen Zweifel an seinem Wohlstand. Schon die Uhr an seinem Handgelenk war ein Vermögen wert.
Es war offensichtlich, dass das Leben Eric in ihrer Abwesenheit gut behandelt hatte.
„Kelly …“, seine Stimme zitterte, als er sich im Raum umsah. Als sein Blick auf ihr ruhte, überfluteten ihn die Gefühle, und seine Augen wurden rot.
Kelly öffnete die Lippen, doch kein Laut kam heraus.
Hätte sie es nicht von der Polizei selbst erfahren – dass er weitergezogen, wieder verheiratet und sogar Vater geworden war – hätte sie vielleicht für einen Moment geglaubt, dass er noch immer für sie empfand.
„Du hast so viel durchgemacht“, murmelte Eric, als er näher trat und den Impuls unterdrückte, sie in die Arme zu schließen. „Komm mit mir nach Hause.“
Kelly rührte sich nicht. Konnte sie das überhaupt noch ihr Zuhause nennen?
„Kelly, du bist jetzt in Sicherheit. Alles liegt hinter dir“, versicherte er ihr und hockte sich hin, um ihr in die Augen zu sehen.
Tränen verschleierten ihre Sicht. Die Polizei musste sich irren. Wie konnte der Mann, der sie einst so sehr geliebt hatte, dass er im Morgengrauen einen Berg erklomm, nur um ein Liebesschloss am Gipfel anzubringen, sein Herz einer anderen schenken? War das alles eine Lüge gewesen?
„Mr. Gray, ich habe Sie bereits über ihren Zustand informiert“, sagte der zuständige Polizeibeamte leise, als er zu ihnen trat. „Das Trauma hat dazu geführt, dass sie nicht mehr sprechen kann.“
Ein Anflug von Schmerz huschte über Erics Gesicht, bevor er sanft nach ihrer Hand griff.
Ohne Widerstand ließ Kelly sich von ihm aus dem Revier führen, ihre Schritte langsam und zögerlich.
Sie hatte geglaubt, der Flucht aus der Hölle folge endlich die Rückkehr ins Paradies. Doch die Wirklichkeit ließ sie frösteln.
„Kelly, ich bringe dich erst einmal in ein Hotel. In all den Jahren hat sich vieles verändert, und was das Zuhause angeht …“ Eric verstummte. Er hatte nicht vor, sie zurückzubringen – aus Angst, sie zu verletzen.
Kelly zog Stift und Papier hervor und schrieb mit zitternder Hand: „Bring mich nach Hause!“
Dieses Haus war für sie mehr als nur ein Ort – es war ihr gemeinsames Zuhause.
Es war das Symbol ihrer fünfjährigen Liebe, der Ort, an dem ihre schönsten Erinnerungen begannen.
Eric erstarrte, sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Sekunden verstrichen in Schweigen, bevor er schließlich mit schwerer Stimme sprach: „Kelly … es tut mir leid.“
Ihre Hände ballten sich, zitternd.
Selbst im Chaos des Krieges, als Kugeln an ihr vorbeizischten, hatte sie nie solche Angst verspürt.
Und doch fuhr er fort: „Du warst fünf Jahre weg. Alle glaubten, du seist tot. Ich habe mein Leben weitergelebt und wieder geheiratet. Meine Frau und meine Tochter wohnen jetzt dort. Es tut mir leid, aber ich kann nichts tun, was ihnen schaden würde.“
In diesem Moment zerbrach das Herz, das sich so lange an die Hoffnung geklammert hatte, endgültig.