Kapitel 4: Für seine Geliebte gehalten
Eric schwieg lange, bevor er Kelly endlich ansah. Seine Stimme war schwer vor Kummer: „Nach deinem Unfall haben deine Eltern verzweifelt versucht, dir zu helfen. Sie haben den falschen Menschen vertraut und wurden betrogen, sie haben alles verloren. Egal, wie sehr ich versucht habe, sie zu überzeugen, sie wollten nicht hören.“
Er hielt inne, als würde es ihm schwerfallen, weiterzusprechen. „An dem Tag rief unser Krankenhaus mich nach Stoneville. Bevor ich ging, habe ich sie noch besucht. Aber in jener Nacht bekam ich einen Anruf. Ihr Haus hatte gebrannt. Sie ... sie haben es nicht geschafft.“
Auch wenn Eric es nicht direkt ausgesprochen hatte, verstand Kelly sofort. Ihre Eltern waren um ihr gesamtes Erspartes gebracht worden, als sie versucht hatten, sie zu retten. In ihrer Verzweiflung hatten sie sich das Leben genommen.
Ihr Blick verschwamm, und während eine Welle überwältigender Trauer über sie hereinbrach, machte sich eine seltsame Taubheit in ihr breit.
„Kelly!“ Ein dumpfer Schlag hallte, als sie zu Boden sank und das Bewusstsein verlor.
Während die Welt um sie herum verblasste, hörte sie die Stimmen ihrer Eltern in ihrem Kopf.
„Kelly, komm bald nach Hause. Dein Vater grillt heute dein Lieblingssteak.“
„Kelly, hilf mir, mit deiner Mutter zu reden. Sie ist wieder sauer auf mich und meint, ich soll heute im Gästezimmer schlafen.“
„Kelly, mein liebes Mädchen ... bleib stark, ja? Du hast noch so viel vor dir.“
...
Als Kelly schließlich wieder zu sich kam, war ihr Atem flach und unregelmäßig. Sie blinzelte und sah sich um, während das beklemmende Gefühl in ihr wuchs – dieser Ort, einst voller Wärme, fühlte sich jetzt fremd und kalt an.
Eric musste sich Sorgen um sie gemacht haben. Anstatt ein Hotel zu buchen, ließ er sie im Gästezimmer schlafen.
Es war bereits spät. Von draußen hörte sie, wie Eric und Regina stritten.
„Warum hast du sie hierbleiben lassen? Hast du immer noch Gefühle für sie? Eric, ich bin all die Jahre bei dir gewesen! Belüg mich nicht! Du liebst sie doch noch, oder? Nicht mal das Passwort hast du geändert! Schön. Wenn sie dir so wichtig ist, gehe ich. Ich nehme Faye mit. Kelly muss sich nicht von dir scheiden lassen – das mache ich. Jetzt, wo sie zurück ist, bedeutet unsere Ehe sowieso nichts mehr!“
Reginas Stimme war scharf und absichtlich laut, damit Kelly jedes Wort hören konnte.
Fünf Jahre lang hatte Kelly geglaubt, dass ihre Rückkehr nach Seaville ihr Leiden beenden würde. Sie dachte, sie hätte noch immer die Liebe ihrer Eltern und Erics Zuneigung.
Doch nichts war mehr wie früher.
Kelly stand auf, das bedrückende Gefühl der Fremdheit lastete schwer auf ihr. Der Gedanke, dass sie und Eric einmal Fremde werden könnten, war ihr nie in den Sinn gekommen.
Als sie das Zimmer verließ, wäre sie beinahe mit Regina zusammengestoßen, die mit Faye im Arm wütend davonstürmte.
Reginas Blick war voller Groll, als würde sie Kelly allein schon für ihr Dasein verurteilen.
„Warum bist du zurückgekommen? Vorher war alles gut! Du hättest da draußen sterben sollen!“ fauchte Regina, völlig außer sich.
„Regina!“ Eric verlor die Beherrschung. Ehe er sich versah, schlug er sie – direkt vor Faye.
Vielleicht wurde ihm bewusst, wie grausam ihre Worte gewesen waren.
Reginas Gesicht verzog sich vor Schock. Sie starrte Eric an, Unglauben in den Augen, bevor sie sich abwandte und hinauslief. „Du schlägst mich ihretwegen!“
Faye schrie auf, ihr Weinen durchbrach die Stille der Nacht.
Eric stand wie erstarrt da, hin- und hergerissen zwischen Schuld, Reue und Unbehagen.
Inzwischen hatten die Nachbarn den Lärm bemerkt. Einige zückten sogar ihre Handys, um alles zu filmen.
„Regina, du und Eric, ihr habt euch doch immer gut verstanden. Was ist passiert?“, fragte eine Nachbarin.
Kelly sah sich um. Als sie und Eric dieses Haus gekauft hatten, war es noch ein Rohbau gewesen. Gemeinsam hatten sie es eingerichtet, jedes Detail sorgfältig ausgesucht, von den kahlen Wänden bis zu den gemütlichen Ecken.
Damals wohnten noch nicht viele Leute in der Nachbarschaft, und sie kannte kaum jemanden.
Jetzt, fünf Jahre später, war Regina für die Leute hier Erics einzige und wahre Ehefrau.
Die Erkenntnis, dass jemand anderes das Leben übernommen hatte, das sie aufgebaut hatte, war erdrückend.
„Wer ist diese Frau? Ist sie eine Geliebte?“, murmelte ein Nachbar.
„Du bist eine Hexe! Warum bist du gekommen? Warum hast du Papa Mama weggenommen? Du machst alles kaputt!“, rief Faye unter Tränen und verschlimmerte die Situation noch.
Es war offensichtlich, dass ein Erwachsener ihr diese Worte eingeflüstert hatte. Und da sogar ein Kind Kelly beschuldigte, nahmen die Nachbarn schnell an, sie sei die Geliebte.
„Schaut sie euch an – so mager! Wie soll sie je mit Regina mithalten? Eric, sei nicht dumm und wirf dein Leben für so jemanden weg.“
„Genau! Es ist eine Schande, eine Familie so zu zerstören. Schamlos!“
Kelly stand wie erstarrt da, überwältigt von Schock und Hilflosigkeit. Sie wandte sich an Eric, suchte nach irgendeiner Art von Unterstützung.
Das ist wirklich die Höhe der Unverschämtheit.
So viel Dreistigkeit habe ich noch nie erlebt ...
Sowohl Regina als auch Faye nutzten Kellys Sprachlosigkeit gegen sie, wohl wissend, dass sie sich nicht wehren konnte.
Alles, was Kelly blieb, war die Hoffnung – die Hoffnung, dass Eric eingreifen und die Wahrheit sagen würde.