Kapitel 12 Zwei von einer Art
Als Cecilia sich umsah, kam ihr alles ungewöhnlich fremd vor. Wieder einmal hatte sie den Rückweg vergessen.
Sie zückte ihr Handy, um das GPS zu benutzen, hatte aber Mühe, sich an den Namen des Ortes zu erinnern, an dem sie wohnte.
Calvin war ihr aus der Ferne gefolgt und machte sich Sorgen um sie, seit Nathaniel gegangen war. Als er Cecilia allein stehen sah, konnte er nicht anders, als sie anzusprechen.
"Cecilia".
Erschrocken dachte Cecilia instinktiv, dass Nathaniel zurückgekehrt war. Ein Hoffnungsschimmer flammte in ihren Augen auf, doch als sie sich umdrehte, wurde er von einem Gefühl des Verlustes abgelöst.
Calvin ging auf sie zu. "Erinnerst du dich wirklich nicht an mich?"
Cecilia starrte ihn an und hatte Mühe, sein Gesicht zu erkennen.
"Ich bin Fatso; hast du das vergessen?" forderte Calvin sanft auf.
In diesem Moment erinnerte sich Cecilia. Als sie noch ein Kind war und mit Martha auf dem Land lebte, hatte sie einen Freund namens Fatso. Calvin war damals pummelig und kleiner als sie gewesen, aber jetzt war er zu einer großen, imposanten Gestalt mit markanten Gesichtszügen herangewachsen.
"Ich erinnere mich jetzt; du hast dich so sehr verändert, dass ich dich kaum wiedererkannt habe."
Das Wiedersehen mit einem alten Freund an einem so fremden Ort zauberte ein schwaches Lächeln auf Cecilias Gesicht, das allerdings mit einer gewissen Bitterkeit behaftet war, die Calvin nicht entging.
"Komm, ich bringe dich nach Hause", bot Calvin an.
Nachdem er Cecilia abgesetzt hatte, stellte Calvin überrascht fest, dass sie in einem heruntergekommenen Motel untergebracht war. Für jemanden, der aus einer angesehenen Familie wie der Rainsworth-Familie stammte, hätte sie selbst nach einer Scheidung nicht in einem solchen Zustand sein dürfen.
Cecilia fühlte sich unwohl. "Entschuldigen Sie den Ärger", sagte sie leise. "Ich wohne hier, aber bitte sagen Sie Martha nichts davon. Ich fürchte, es würde sie beunruhigen."
Calvin nickte, unsicher, wie er sie trösten sollte. Es war spät, und er konnte nicht ewig bleiben. Nachdem er versprochen hatte, sie am nächsten Tag zu besuchen, ging er.
Als Calvin wegfuhr, bemerkte er den mattschwarzen Cadillac nicht, der im Schatten unter dem Gebäude parkte.
Für Cecilia spielte es keine Rolle, wo sie wohnte. Nachdem Calvin gegangen war, spürte sie das Unbehagen von den Getränken, die sie vorhin getrunken hatte, ihr Magen drehte sich und ihr Kopf schwirrte.
Nathaniels grausame Worte hallten in ihrem Kopf nach. "Du siehst aus wie ein Geist! Wer würde eine Frau wie dich überhaupt mögen?"
Sie rieb sich die Schminke aus dem Gesicht und den Lippenstift von den Lippen, ihre blasse Haut war von der groben Behandlung gerötet und geschwollen.
Nachdem sie festgestellt hatte, dass sie unter Depressionen litt, informierte sich Cecilia über diese Krankheit. Sie wusste, dass Depressionen zu Hirnschäden führen können, die Gedächtnisverlust und kognitive Funktionsstörungen verursachen. Sie kann dazu führen, dass man sich mit unglücklichen Gedanken beschäftigt, was den Kummer noch verstärkt.
Klopf, klopf!
Das anhaltende Klopfen hallte durch den Raum. Cecilia dachte, Calvin sei zurückgekommen, also stand sie auf, um die Tür zu öffnen. Doch in dem Moment, in dem sie aufschwang, wurde ihr Handgelenk von Nathaniel fest umklammert.
Er hielt ihr schlankes Handgelenk so fest, dass es sich anfühlte, als könnte es brechen.
"Cecilia! Du hast mich wirklich überrumpelt!" Nathaniels Stimme war rau, als er die Tür hinter sich schloss und sie kurzerhand auf die nahe Couch führte.
"Du hast also schon deinen nächsten Partner gewählt - kein Wunder, dass du so bereit bist, loszulassen!" Seine Worte waren wie Dolche, die tief einschnitten.
Calvin mit ihr zu sehen, hatte in Nathaniel einen Funken Eifersucht und Unverständnis entfacht.
Cecilia konnte nicht verstehen, warum Nathaniels erste Liebe einen solchen Platz in seinem Herzen einnahm, doch nichts, was sie tat, schien ihn zu erreichen.
Sie blickte direkt in Nathaniels wütende Augen, ihre eigenen röteten sich an den Rändern. "Wir sind einfach zwei von der Sorte", flüsterte sie.
Die Familie Smith hatte ihn bei der Heirat betrogen, und Nathaniel hatte sie drei Jahre lang mit Gleichgültigkeit behandelt, während er immer noch Gefühle für seine erste Liebe hegte. Keiner von ihnen war edler als der andere.
Nathaniel hatte in dieser Nacht Alkohol getrunken, und sein ganzes Wesen verströmte den Geruch von Alkohol. Er griff nach Cecilias Kinn, seine Augen waren rot umrandet, als er murmelte: "Wer war er? Wann habt ihr beide euch kennengelernt?"
Es war das erste Mal, dass Cecilia ihn so sah, und sie musste plötzlich lachen. "Bist du eifersüchtig?"
Nathaniels dunkle Augen verengten sich, als er sarkastisch erwiderte: "Bist du meiner Eifersucht würdig?"
Cecilia unterdrückte die Tränen.
Nathaniel lehnte sich jedoch näher an sie heran und beharrte mit seinen Fragen an ihrem Ohr. "Hatte er schon viel früher Sex mit dir? Hmm?"
Sie waren seit drei Jahren verheiratet, und Cecilia hatte in dieser Zeit ihre Arbeit aufgegeben, um den Bräuchen der Familie Rainsworth zu folgen. Sie hatte sogar gelegentlich Einladungen von Freunden abgelehnt. Doch nun begann Nathaniel an ihrer Treue zu zweifeln.
In diesem Moment verspürte Cecilia ein unerwartetes Gefühl der Erleichterung. "Was denkst du denn?", konterte sie.
Nathaniel war zutiefst wütend, seine brennende Hand wanderte ihren Körper hinunter. Cecilia gefror das Blut im ganzen Körper und sie sah ungläubig auf das, was vor ihren Augen geschah. Sie wollte sich wehren, zurückschlagen, aber es war zwecklos. Nathaniel machte weiter und weiter...
Erst im allerletzten Moment beruhigte sich Nathaniel endlich.
Draußen begann sich der Himmel aufzuhellen. Nathaniel betrachtete die dünne und gebrechliche Cecilia, dann wanderte sein Blick zu dem grellen Jungfrauenblut auf dem Bettlaken. Er konnte das Gefühl in seinem Herzen nicht ganz beschreiben.
Klatsch!
Der scharfe Klang einer Ohrfeige hallte durch den Raum, als Cecilia Nathaniel in sein hübsches Gesicht schlug. Die Ohrfeige zerstörte all ihre vergangenen Illusionen von Liebe.
Sie schlug sich die Hände vor die Ohren, da sie nicht verstand, was Nathaniel sagte, und unterbrach ihn: "Raus!"
Nathaniel hatte keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, zu gehen. Die Szenen der vergangenen Nacht gingen ihm nicht aus dem Kopf.
Sobald er im Auto saß, wählte er seinen Assistenten Mason an. "Finde heraus, wer die Männer in Cecilias Leben sind", befahl er.
Mason war etwas verwirrt.
Nach ihrer Heirat drehte sich Cecilias Welt um Herr Rainsworth. Kannte sie überhaupt andere Männer?
Im Motel reinigte sich Cecilia, nachdem Nathaniel gegangen war, immer wieder gründlich.
Als sich ihre Scheidung abzeichnete, hatten sie endlich die Essenz des Ehepaarseins erfahren. Es war, wenn man es laut ausspricht, sowohl lächerlich als auch tragisch ironisch.
Am Morgen, gegen neun Uhr, brachte Calvin das Frühstück, ohne sich um Cecilias ungewöhnliches Verhalten zu kümmern.
"Ich war gestern Abend so in Eile, dass ich vergessen habe, zu erwähnen, dass wir ein leerstehendes Haus auf unserem Grundstück haben. Du kannst gerne dort bleiben. Es ist nicht sicher für ein Mädchen, in einem Motel zu wohnen."
Cecilia schüttelte ablehnend den Kopf. Es war schwierig, menschliche Freundlichkeit zu erwidern, und sie wollte niemandem etwas schuldig sein.
Calvin erwartete ihre Ablehnung. "Wie auch immer, die Wohnung ist frei. Sie können genauso gut einziehen - ich werde Ihnen keine Miete berechnen."
"Aber ich brauche es nur für einen Monat", sagte sie.
"Dann also einen Monat. Das ist auf jeden Fall besser, als die Wohnung unbewohnt zu lassen", stimmte Calvin zu.
Er konnte sich nicht erklären, warum sie behauptete, nur einen Monat bleiben zu können, wo sie doch noch viel Zeit vor sich hatten.
Als er Cecilia zum Haus fuhr, hatte sie nur einen einzigen, einfachen Koffer dabei, ohne jegliches anderes Gepäck.
Nachdem sie ins Auto gestiegen waren, schwelgten Calvin und Cecilia in Erinnerungen an ihre Kindheit. Später erzählte er, was er in den letzten Jahren so getrieben hatte.
Nach der Highschool war er ins Ausland gegangen, hatte neben dem Studium fleißig gearbeitet und mit zwanzig Jahren sein eigenes Unternehmen gegründet. Jetzt war er ein recht wohlhabender Geschäftsmann.
Als Cecilia seine reichen Erfahrungen hörte, dachte sie über ihr eigenes Leben nach.
Nach ihrem Abschluss hatte sie Nathaniel geheiratet und war Hausfrau geworden. Sie betrachtete Calvin mit Bewunderung. "Du bist wirklich beeindruckend."
"Du warst auch fähig. Nachdem du das Dorf verlassen hattest, habe ich dich weiter verfolgt. Ich habe dich im Fernsehen gesehen und war sogar Zeuge, wie du den ersten Platz beim Klavierwettbewerb der Jugend gewonnen hast... Du hast auch gesungen, oder? Wusstest du das? Damals warst du mein Idol..."
Calvin hat Cecilia nichts von seinen Problemen erzählt.
Damals, als er noch allein im Ausland studierte, war das Leben für ihn anfangs nicht einfach gewesen. Er hatte sich schlechte Angewohnheiten angeeignet und war in einen Zustand der Selbstdegeneration verfallen, bis er die Nachrichten über Cecilia sah - eine Person, die mit einer Hörbehinderung geboren wurde und so viel erreicht hatte.
Normalerweise wären ihr die Türen zur Musikindustrie längst verschlossen gewesen.